30 Sep

Fahndung nach dem Vierländer Gold

Der Aufruf lautete: „Achtung: Am Freitag, den 28. August brechen wir ungefähr um 16:30 Uhr am Anleger Zollenspieker zu Fuß auf und bewegen uns … in höchstens Schneckentempo gen Norden“.
Und so kam es beziehungsweise kamen sie aus fast allen Richtungen, von Norden aus Bergedorf und Reinbek gefahren, aus Hamburgs City elbabwärts geradelt, von der Bushaltestelle zu Fuß.

Zu zehnt erklommen wir, Eike folgend, den Deichkamm und lauschten den ersten Fahndungsergebnissen des Biologen aus Westfalen: Er weist auf einen großen Hof auf der anderen Straßenseite (auf dem Foto ganz rechts), übertönt das Geknatter der Motorräder, die sich vor der Elbfähre an der ältesten Fährverbindung Deutschlands stauen, und verrät den staunenden Hamburgern, dass dieser Hof seine Größe kleinen Beeren verdankt habe. Hier lebten bis vor 110 Jahren die Ockermanns, die als eine der letzten Vierländer Bauernfamilien die begehrten Vierländer Zimterdbeeren, bekannt auch als „Olle Dütsche“ anbauten. Die Zimterdbeere ist eine der heimischen Wilderbeerarten und liebt leicht feuchten und sauren Boden wie in den Vierlanden. Ihre Früchte sind zwar klein, aber besonders aromatisch und würzig, mit Aromen von Zimt und Muskat. Die Pflanze ähnelt sehr einer Walderdbeere aber im Herbst wird ihr Laub rotbraun und die Früchte sind dunkler, fast purpurn.

Im Vierländer Boten war im Juli „Die Geschichte ums Vierländer Gold“ zu lesen: Die roten Früchte der Vierländer Bauern verkauften sich auf Grund ihrer Qualität und ihres köstlichen Geschmacks so gut, dass man sie verbal vergoldete. „Eerdbeern, groot un lütj, lütj un groot, Eerdbeern; Eerdbeern!“ Mit diesen Verkaufsrufen lockten schon vor mehr als 200 Jahren die Vierländer Marktschreier*innen, von weitem erkennbar an ihrer eigentümlichen Tracht. Die Bewohner der Vierlande – eigentlich sind damit nur Kirchwerder zwischen der Großen und der Dove Elbe, Neuengamme zwischen Dove und Gose Elbe Altengamme an der Großen Elbe und Curslack nördlich davon gemeint, aber manchmal werden auch umliegende Ort- und Landschaften dazugerechnet – sind wahrscheinlich Abkömmlinge von Einwanderern aus den Nierlanden und aus Friesland. Sie siedelten sich zu Anfang des zwölften Jahrhunderts in der Nähe Hamburgs zwischen den Elbarmen an. Ihre Tracht galt als ein Gütesiegel für das auf dem Hamburger Markt angebotene Gemüse aus den Vierlanden. Die linke Vierländerin hält übrigens eine Pfingstrose in der Hand, diese Blumen werden in den Vierlanden bis heute angebaut. Wir gucken uns um hier am südlichsten Punkt der Stadt, wo mindestens seit 1252, so verraten alte Urkunden, Handelsschiffe, egal ob sie elbauf- oder abwärts passieren, Zoll entrichten müssen. Und die Riepenburg zu der wir jetzt ein kurzes Stück elbaufwärts gehen, eine Raubritterburg, wurde aufgrund der dort fließenden Einnahmen aus Zoll und Fährbetrieb an dieser Stelle errichtet. Auf der Burg sollten eigentlich Zollwächter walten, aber sie haben den Zoll auf eigene Faust eingetrieben. Dazu nutzten sie das Machtvakuum zwischen Hamburg und Lübeck, deren Ländereien genau hier aneinander stießen, und haben sich zu den Herren der südlichen Vierlande aufgeschwungen.

 

 

 

 

 

 

1420 einigten sich die beiden Städte auf eine gemeinsame Verwaltung des Gebietes; die Riepenburg wurde in Folge geschleift. Heute kann man ihren Standort nur noch am Verlauf des Rundwegs erkennen. Wie wir feststellen mussten, ist der leider zugewachsen. Er umschließt das letzte dokumentierte Anbaugebiet der Vierländer Zimterdbeere, damals von Ockermanns gepachtet, heute eine Weide. Irgendwann zwischen 1905 und 1910 ist die Sorte Vierländer Zimterdbeere verschollen. Der Anbau wurde unter anderem eingestellt, weil die Zimterdbeere nicht so gut transportfähig ist. Außerdem waren die Vierländer Zimterdbeeren zweihäusig. Daher ärgerten sich die Vierl. Bauern über die „Doofköppe“, also taube Köpfe, die männlichen Pflanzen, die nie Früchte trugen und rissen diese aus, woraufhin auch die weiblichen Pflanzen mangels Bestäubung keine Früchte trugen. Nur wenige, darunter Frau Ockermann, kannten das Geheimnis der Zweihäusigkeit. Um 1901 gab es in den Vierlanden noch ungefähr fünf Bauersfamilien, die die Zimterdbeere anbauten.

 


Wir fahnden nördlich der ehemaligen Räuberburg weiter, kommen an Deutschlands ältesten gezielt angelegtem Vogelschutzgebiet vorbei und biegen nach Osten auf den alten Marschbahndamm ein. Dieser führt entlang dem ehemaligen Verlauf der Gose-Elbe, die hier die Ohe umschloss.Heute das wird das fruchtbare Ackerland der Ohe vom Biohof Eggers bewirtschaftet. Dessen Chronik reicht weit zurück. Gut 100 Jahre, nachdem  Hamburg und Lübeck die Riepenburg erobern, wird auf Hof Eggers ein Speicher gebaut. Die drei Ohehöfe, zu denen auch der Hof Eggers gehört, gehörten zu Riepenburg und waren an Bauern verlehnt. Das Flurwort „Ohe“ bezeichnet ein höher gelegenes, bewaldetes Gebiet, daß im Besitz eines Einzelnen war. Claes und Ilsebe sind im 16. Jahrhundert die ersten Eggers in der Ohe. Die heutigen Betreiber schreiben: “Auf Hof Eggers gehen Tradition und Moderne Hand in Hand. Der Erhalt des denkmalgeschützen und reetgedeckten Gebäudeensembles stellt  uns in der heutigen Zeit vor eine große Herausforderung, der wir uns mit einer vielfältigen, offenen, den Menschen zugewandten Ausrichtung stellen möchten. Neben der klassischen Landwirtschaft mit biologischem Ackerbau und Viehzucht haben wir auf dem Hof neue Arbeitsbereiche im Gastronomie-, Veranstaltungs- und Tourismusbereich geschaffen, die unserem Hof den Weg in eine erfolgreiche Zukunft ebnen sollen. Mit dem Wunsch einen nachhaltigen Kreislauf zu schaffen, versuchen wir, all unsere Arbeitsfelder miteinander zu verbinden – quasi vom Weizenkorn bis zum Kotelett auf dem Veranstaltungsbuffet oder dem Gast im Hofcafe, der Einblicke in die biologische Landwirtschaft bekommt und sich entscheidet sein Bio-Fleisch über unseren Onlineshop zu beziehen.


Wir füttern unsere Tiere mit auf unseren Feldern angebautem Futter und können somit Herkunft und beste Bioland-Qualität unserer Produkte garantieren. Trotz allem Wandel steht für uns immer das – möglichst ausgewogene – Zusammenspiel von Mensch, Tier und Natur im Zentrum  unseres Planens und Schaffens. Wir möchten mit unserer Arbeit beispielhaft zeigen, dass sich solide Wirtschaftlichkeit, konsequente Nachhaltigkeit und sozialer Anspruch nicht ausschliessen müssen. So macht für uns die Bewirtschaftung eines traditionellen Bio Bauernhofs in dem von der Zeit gegebenem Rahmen Sinn. Natürlich ist es nicht immer einfach, den Spagat zu schaffen zwischen dem Erhalt von Traditionen, Denkmalschutz und biologischer Landwirtschaft mit einem intensiven Veranstaltungsbereich und Gastronomiebetrieb. Aber wir bemühen uns auch den neuen Geist der Zeit behutsam und nachhaltig in unsere Geschichte einzufügen. Der stets wachsende Erfolg und positives Feedback bestärken uns tagtäglich, dass wir damit auf einem guten Weg sind und wir für das richtige brennen. Nämlich Hof Eggers nicht nur für uns, sondern für Sie, als unsere Gäste, als einen ganz besonderen Ort zu bewahren , eben: Eine grüne Insel im Strom der Zeit!” Die Schreiberin kann nur enthusiastisch zustimmen. Gerade hat sie bei der Solidarischen Landwirtschaft Vierlande, die hier ein Stück Acker gepachtet hat, geholfen, die dicken Roten Beten aus dem schweren Boden zu buddeln.

Theoretisch könnten hier noch verwilderte Bestände der Vierländer Zimterdebeere vorhanden sein. Sie wächst am liebsten in feuchten Wäldern und Schlehengebüschen, wie es sie nordöstlich von Zollenspieker gibt.
Wir hatten die Erlaubnis von Hof Eggers auf ihrem Land, die Hecken und Gebüsche abzusuchen, aber da sich die Sonnen schon anschickte, im Westen hinter eben diesen Gebüschen zu verschwinden, beschlossen wir, die Expedition mit einem gemütlichen Picknick mit SoLaWi-Gemüse abzuschließen.

Damit hört die Fahndung nicht auf. Da die Zimterdbeere eine Wildart ist, können ihre Sorten im Gegensatz zur Gartenerdbeere auch durch Samen sortenecht vermehrt werden und verwildern. Die Gartenerdbeeren hingegen sind Kulturhybriden, sie lassen sich nur über Ausläufer sortenecht vermehren und verschwinden in freier Wildbahn.Eine Gartenerdbeersorte war es, die zeitgleich mit dem Verschwinden der Ollen Dütschen, der Vierländer Zimterdbeere, als Vierländer Erdbeere bekannt wurde. In diesen Jahren wurde eine Sorte der Gartenerdbeere gezüchtet, die heute unter dem offiziellen Namen „Königin Luise“ registriert ist, und auch als „Bismarck“, „Brasil“, „Konsum“, „Mathilde“, „Zuckerkönigin“, oder eben „Riese von Vierlanden“ bzw „Ruhm von Vierlanden“ bekannt war. 1910 war die Vierländer Zimterdbeere in Vergessenheit geraten und man kannte nur noch Gartenerdbeeren.
Doch auch die „neue“ Vierländer Erdbeere ist heutzutage sehr selten und steht auf der Roten Liste gefährdeter Nutzpflanzen. Man kriegt sie heute noch bei Spezialgärtnereien, muss aber etwas danach suchen und darauf achten, dass man tatsächlich diese Sorte bekommt, denn einige Händler sie wohl mit der Vierländer Zimterdbeere verwechselt und angenommen, „Königin Luise“ wäre zweihäusig wie diese, und bieten jetzt irgendeine zweihäusige Gartenerdbeer-Sorte als „Königin Luise“ an. Trotz aller Irrungen, Wirrungen und Schwierigkeiten fahnden wir weiter nach den Originalen, um die eine oder andere Art der echten Vierländer Erdbeere -oder beide? – zu kultivieren, zu vermehren, zu genießen und ihnen zu ihrem wohlverdienten Comeback zu verhelfen.

PS.: Für Fahnder*innen, die sich für die Einzelheiten des Erdbeeranbaus in den Vierlanden und der dortigen Sorten interessieren, folgt in Kürze ein Artikel von unserem Exkursionsleiter Dipl.-Biol. Eike Wulfmeyer.