02 Mrz

Sie sind ein Verkehrshindernis – Fischkopp im Karneval (Teil 4)

Der Jeck denkt um die Eck

Hamburg, Veedel (Viertel) Altona-Altstadt, OZ (Ortszeit) 13/06/2019, eher nachmittags: Diese Session beginnt für Vera am 13. Juni 2019. Session steht zugleich für Karnevals-Sitzung und die fünfte Jahreszeit, die offiziell am 11.11. und 11:11 Uhr anfängt. Fünf Monate vorher hat Edith, ihres Zeichens samt der meisten Aszendenten „Made in Cologne“, ein Geschenk für den Hamburger Jeck. Letzteres ist manchmal Haupt- manchmal Eigenschaftswort und jenseits aller Geschlechter. Das Wörtchen heißt im Rheinland Narr oder närrisch und gilt dort meist als Kompliment. Mit Jeck werden primär Personen bezeichnet, die aktiv am Karneval teilnehmen. Jeder, der Karneval feiert, ist ein Jeck, erläutert Wikipedia hilfreich, „tut er dies in einem Korps oder einer Karnevalsgesellschaft, tritt er als Musiker, Redner oder Tänzer auf, gehört er also zum organisierten Karneval, dann ist er hingegen ein Karnevalist.“ Da haben wir es wieder, das Männliche – und setzten uns jeck darüber weg, denn jeck sein beschränkt sich in der kölschen Lebensart nicht nur auf die fünfte Jahreszeit, es gilt als Lebenseinstellung: Der liebenswerte Jeck aller Geschlechter und Orientierungen nimmt weder die Dinge noch sich selbst sehr ernst und ist immer bereit, die Welt ein wenig auf den Kopf zu stellen, um die Ecke zu denken. „Jede Jeck ist anders (oder von woanders)“, „Jet jeck simmer all“ (Etwas jeck sind wir alle); „Jeck, loss Jeck elans“ (Jeck, lass den anderen Jeck vorbei), im Sinne von: Leben und leben lassen … solche Aufforderungen zu Toleranz und Nachsicht dem anderen gegenüber, im Wissen um die eigene Unvollkommenheit, nimmt Vera sehr ernst, fühlt sich als norddeutscher Jeck (alias Fischkopp) nahezu geadelt und muss fast kriische (weinen), als die zur Geburtstagsfeier aus Köln angereiste Freundin ihr zum 65. einen Gutschein überrreicht: für die Puppensitzung 2020! Die Vorgeschichte beginnt in den 1980er-Jahren, als Köln zum ersten Mal alternativen Karneval feiert, Vera zu Weiterbildungszwecken in Ediths Wohngemeinschaft zieht und manche  seltsame Trainingsanzüge tragen, zartviolett mit türkisgrünen und pinkfarbenen Schrägstreifen.  So ein Sportanzug wird auf Grund seiner Bequemlichkeit in einigen Milieus als idealer Freizeitdress angesehen, in anderen als proletarsiche, niveau- und kulturlose Bekleidung. „Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, meint seinerzeit Karl Lagerfeld. Warum so etwas 2020 wieder wichtig wird, erfahren geneigte Leser*innen einige Karnevalsjahre weiter unten, wir kommen auch aufs Thema Kontrollverlust zurück. Jetzt beamen wir uns jetzt erstmal in die WG am Rande von Köln, im Bergischen, in den Endachzigern. Die Bewohner sind circa Mitte dreißig.

Das Edithche – ihre Freundinnen meinen es mit dieser Benennung wirklich kölsch mit ihr, wollen sie aber nicht verniedlichen  – arbeitet in einem Logistik-Unternehmen. Ihre bei der Deutschen Post  in Jahrzehnten gereifte Organisationskompetenz überträgt sie mit viel  Erfolg auf andere Lebensbereiche. So wird Vera in einer langfristig angelegten Weiterbildung in rheinische Rituale eingearbeitet: Sessions-Eröffnung mit der Sowieso-Garde auf dem Sowieso-Markt, Aufstand der Wäscherinnen, behördliche Schlüsselübergabe ans Dreijestirn, Bützen an Wieverfasteleer, Tanzen auf Brauhausbänken, musikalische Kommentareder Bläck Föösszur Stadtentwicklung („Mer losse de Dom“ etc.), Nubbelverbrennungsamt Abschied von allen Fisternöllcher,abschließendes Fischessenunter dem Segen eines Heiligen. Die recht sture Freundin aus dem Norden nimmt – zunächst vorgeblich nur als Reporterin – an Mädchen- und Immigrantinnen-Sitzungen, Schwul-lesbischen Kostümbällen, Märschen mit den Aal Säu und einer Führung zu den Gräbern von Karnevalisten teil. Beim Rumtreiben in der Kölner Altstadt entdeckt der Jeck aus Altona-Altstadt den Eisenmarkt, mündlich Isemaat genannt, und sein Hänneschen Theater. Dort liest sie, dass in diesem städtischen Puppenspielhaus eine der wichtigsten Sitzungen überhaupt stattfindet, lässt der Logistikerin fortan keine Ruhe, hört von großen organisatorischen Herausforderungen, hat schon fast aufgegeben.  Und dann kommt der Gutschein, dann ein paar Monate nichts und im September folgender Bericht – per Papierpost:

 

Haben Se denn auch en Nümmerche?

Köln, Veedel Altstadt, OZ 21/09/2019, 05:15 Uhr:  „So einen Tag kann es nur in Köln geben. Mein Wecker klingelt um 05:15 Uhr – gäähn, aber ich habe meiner Freundin Vera aus Hamburg ja zum Geburtstag eine Karte für die Puppensitzung 2020 geschenkt und die muss HEUTE, Sa. 21.09.2019 besorgt werden. Um 05:47 Uhr sitze ich in der Linie 7, die mich zum Heumarkt bringt. Um 06:06 Uhr betrete ich, in banger Erwartung einer langen Schlange, den Innenhof vor dem Hänneschen und es steigt eine freudige Erregung in mir auf. Zwar viele Leute in Campingstühlen, einige die dabei sind, Isomatten zusammenzurollen und Zeltgestänge abzubauen, aber eine doch recht überschaubare, gelassene Szenerie. Ich wundere mich und pirsche auf die Eingangstür des Hänneschen zu – keine Schlange, na ich bin ja auch zu früh. Ich steh da so rum, da kommt einer und fragt mich. „Ja haben se denn auch en Nümmerchen?“ Ich: „Nä, wat für ein Nümmerchen?“ Er: „Ja sie müssen am Abend vorher kommen, da gibt es um 19:00 Uhr und um 21:00 Uhr die Wartenümmerchen.“ Aha, diesen Brauch kenne ich nicht (na sowas, als altes Kölner Urgestein), aber ich war ja auch noch nie auf der Puppensitzung. Ich: „Gut, was muß ich denn jetzt tun, um ein Nümmerchen zu bekommen?“ Er: „Ja, dat jeiht jetzt nit mi. Die Nümmerchen gib et nur abends. Jetzt müssen se hier raus aus dem Innenhof un sich do öm de Eck anstelle in de Warteschlang.“ Ohne Nümmerchen kein Innenhof! Langsam begreife ich, erkundige mich aber bei einem zweiten erfahren aussehenden Herren, wie es genau funktioniert: Die Nümmerchen werden am Abend zweimal ausgegeben und um Mitternacht wird kontrolliert, ob alle, die ein Nümmerchen bekommen haben, auch noch im Innenhof sind und unter ihren Unterständen in den Campingsesseln auf den Isomatten brav ausharren (einige leere Kästen Kölsch, ein Grill und sonstiges Equipment lassen erahnen, dass es ein schöner Abend war an dem niemand Hunger und Durst leiden mußte). Ich frage nach dem Grund dieses Kontrollganges. Jede/r die oder der ein Wartenümmerchen hat, hat damit Anspruch auf den Erwerb von zehn Karten für die Puppensitzung. Würde man das jetzt nicht so streng kontrollieren, kämen am Abend zehn Menschen, würden zehn Nümmerchen bekommen (also Anspruch auf 100 Karten!), dann würden neun nach Hause fahren und im warmen Bettchen schlafen und nur eine/r könnte quasi am nächsten Morgen 100 Karten abholen. Das ist aber nicht gerecht! Das geht so nicht! Wer zuerst da ist, hat ja auch Anspruch auf die besten Karten: erste Reihe, Wunschdatum etc. AHA – ich habe verstanden und erkundige mich noch, wie hoch denn die Wahrscheinlichkeit ist, wenn ich kein Nümmerchen habe und ganz hinten anstehe, dass ich überhaupt noch eine Karte bekomme. Da soll ich mir mal keine Sorgen machen. Meistens bekommen alle die vor 09:00 Uhr da sind, auch Karten. Okay – ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich gehe also durch die nächstgelegene Toreinfahrt und sehe, dass die ganze enge Salzgasse voller Menschen auf Campingstühlen sitzt. So gehe ich mit der Frage, haben sie ein Nümmerchen … die gesamte Reihe ab. Denn es ist klar, daß ich mich erst bei denen anstellen darf, die KEIN Nümmerchen haben.  Also… am Ende der Schlange. Etwas anderes ist auch gar nicht möglich, denn ich werde von Dutzenden Argusaugen begleitet. Stelle mich also brav hinten an (was sonst nicht so meine Art ist), aber in dieser Situation scheint es mir angebracht zu sein, sich den offensichtlich strengen Regeln zu beugen. So lande ich neben einem großen Herren mit interessanter Frisur, einem nicht mehr ganz so jungen Studenten, einem Mittvierziger in roter Jacke hinter drei Frauen. Zwei aus der Region Leverkusen/Dormagen und Claudia aus Köln Worringen. Offensichtlich steht man hier gerne zu dritt oder viert in der Warteschlange. Und sogleich werde ich von dem mir gleichaltrigen Herren aufgeklärt, dass wir sieben jetzt ein Team sind und zusammenhalten müssen. Das heißt: a) aufpassen, dass sich keiner vordrängt; b) wenn eine/r mal weg muss (Kaffee holen oder Pipi machen) halten die anderen den Platz frei; c) man kennt sich jetzt und man hilft sich! Alles klar. Ich spiele zwar noch mit dem Gedanken, ob ich mich nicht doch noch in eine vorteilhaftere Position bringen könnte, aber das ist nach fünf Minuten erledigt weil wir uns so nett unterhalten und ich schon „dazugehöre“ und eigentlich jetzt auch gar nicht mehr weg kann aus dem „Team“.

 

Ihr könnt euch schon mal ausziehen!

Ja, so vergehen erst mal zwei Stunden mit netten Plaudereien und ein paar Fragen nach den Lebensgeschichten der Teammitglieder. Dann passiert etwas nahezu Unfassbares. Torsten, der Mittvierziger mit der roten Jacke verschwindet kurz und taucht dann mit zwei Karten auf. Er hatte vorher im Innenhof eine Frau getroffen, die meinte, sie bräuchte nur acht Karten, könne aber zehn holen. Torsten braucht nur zwei Karten, also versprach sie ihm, die mitzubringen. Diese Frau hatte die Wartenummer 28 – eine wahre Poolposition. So hat also Torsten seine Karten, bleibt aber trotzdem bei uns stehen. Ich wundere mich! Aber die anderen finden wohl nichts dabei. Schließlich gehört er ja zu unserem „Team“. Nach einer weiteren Stunde verrät mir der junge Student (von dem wir mittlerweile wissen, dass er zuerst BWL studiert hat und jetzt im zweiten Studium Musik studiert), dass er eigentlich jetzt zu einem Alumni-Treffen seiner BWLer müsste. Ich biete ihm an, (weil ich ja nur sechs Karten holen möchte) seine zwei mitzubringen. Claudia, eine der drei Damen (die sich vorher auch nicht kannten), muss auch dringend weg und siehe da, Torsten, der ja seine zwei Karten schon hat, bietet ihr an, zehn Karten für sie zu holen. Team ist Team. Eine Menge Geld wechselt die Portemonnaies, das Vertrauen, was in diesen vier Stunden gewachsen ist – beachtlich, und sogleich verabreden wir uns für den nächsten Mittwoch zur Kartenübergabe in der Malzmühle um 18:30 Uhr. Super, da können wir dann auch Kölsch trinken. Unser Teamgründer Heinz kommt natürlich auch hin. Ich sehe, dass wir uns so langsam dem Tordurchgang nähern. Oh je, da zieht es gewaltig und ich denke, es ist an dieser Stelle sicher klug, mir eine kleine Auszeit zu gönnen, um erkältungsfrei aus dieser Aktion herauszugehen. Zugige Tordurchgänge lösen bei mir schnell kalte Öhrchen aus. Also mache ich dem Team den Vorschlag, mal Kaffee und Brötchen zu holen, was auf allgemeine Zustimmung stößt. Ich nehme die Bestellungen auf und mache mich auf den Weg zu Merzenich (Seit 1896 Kölner Bäckerei) – Kamps ist zwar näher aber die boykottiere ich und ich habe ja ZEIT… Die nette Verkäuferin gibt mir ein Papptablett mit, damit ich die Kaffee- und Kakao-Bestellung sicher ans Ziel bringe. Zurück gehe ich durch den Innenhof, wo eine sehr schöne Stimmung herrscht, ein Mann spielt Gitarre und die Menge singt kölsche Lieder dazu. Mein „Team“ steht leider noch in der Tordurchfahrt … aber am Kaffee kann ich mir die Hände wärmen und es sind auch nur noch ein paar Meter (ca. 10 Min), bis wir dann auch den heißersehnten Innenhof erreichen. Die Uhr zeigt 10:15 Uhr. Ich frage den erfahrenen Teambilder, wie lange es den nun seiner Einschätzung nach noch dauert. Och, so ein bis zwei Stunden meint er. Na ja, so nahe am Ziel kann frau nicht aufgeben. Also bleiben. Ich ergattere einen Stuhl und schiebe sitzend mit der Schlange weiter, im – nun auf fünf Personen geschrumpften – Team versteht sich. Mittlerweile hat sich ein stämmiger kölsche Jung an unsere kleine Gruppe herangepirscht … ja, er ist ja ganz gesprächig, aber irgendwie doch nicht unsere Kragenweite. Den müssen wir im Auge behalten meint der Teamleiter, der war hinter uns. Ja … Ja… Wir nähern uns der Eingangstür zum Kartenverkauf, da ruft eine Stimme von innen. Ihr könnt euch schon mal ausziehen, hier drin ist es warm. Wie schön, ich schäle mich aus der wattierten Jacke heraus und tatsächlich nach weiteren zehn Minuten wird es warm. Die zehn Meter da drinnen sind dann auch in schlappen 40 Minuten geschafft und auch innerhalb unseres Teams wird jetzt korrekt aufgestellt, erst die verbliebenen zwei Damen, dann Torsten, dann unser Teamleiter Heinz und dann ich. Der kölsche Jung hat es verstanden und wartet brav. Ich bekomme zwei Karten für den Studenten zum Wunschtermin und juchhuh sechs Karten sogar für Karnevals- Samstag, für die 19:30 Uhr Vorstellung in Reihe 12. Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt, es ist ein mittelschweres Wunder! Als ich ganz glücklich in den Innenhof trete, steht „mein Team“ mit ausgebreiteten Kartenschlangen da und wir machen noch ein Abschlussfoto. Die beiden Damen aus Leverkusen/Dormagen können nicht kommen (in der Woche und nach der Arbeit ist es zu spät und zu weit), aber Claudia, Leonard, Torsten, Heinz und Edith treffen sich am kommenden Mittwoch in der Malzmühle. Und Heinz kündigt mir an, dass er mich am Montag mal anrufen will – tja, so entstehen neue Freundschaften in Kölle.”

Biwakieren statt Reservieren

“Also Sa. 22.02.2020 geht’s zur Puppensitzung 19:30 Uhr – Dieses DATUM ;-))“. So endet Ediths Schilderung. Und sie fischt für den neugierigen Fischkopp noch „Herrschaftswissen“ aus dem Internet, ehrlich und genau gesagt aus „Yelp“. Dort beschreibt Kai H. aus Köln, wie das Hänneschen Theater vollständig analog mehr als 10.000 Karten pro Session verkauft, wie das zugeht mit der Puppen-Logistik und der Gerechtigkeit: „Ejmol em Johr kütt dä Jeck op de Isemaat (Eisenmarkt), nicht um Staat zu halten vor dem Hänneschen-Theater, sondern um die begehrten Karten für die höchst beliebte Puppensitzung zu ergattern. Kartenreservierungen gibt es nicht, selbst die Großkopferten der Stadtverwaltung können angeblich nicht ihr Vitamin B spielen lassen, um über geheime Kanäle an Karten zu kommen. Eigentlich gibt es nur eine Chance: Man muss sich am Ausgabetag der Karten an der Tageskarte anstellen. An einem vorher bekannt gegebenen Samstag (meist im September oder Oktober) werden an der Tageskasse ab 10 Uhr die Eintrittskarten für die Puppensitzung des nächsten Jahres angeboten. Hört sich einfach an, aber wer die lange Tradition der Kölner im Biwakieren kennt, ahnt schon, worauf das jetzt hinaus läuft. Was der Laie unter Anstellen an derTageskasse versteht, hat nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was hier passiert. Denn wenn Sie jetzt denken, man kommt mal so um 7 Uhr her, man wird sicher bei den Ersten sein, hat schon verloren und kann es im nächsten Jahr nochmal versuchen. Ich möchte es einmal so beschreiben: Der Kauf der Karten für die Puppensitzung ist ein Event für sich! Die ersten Teilnehmer dieses Events treffen hier in Laufe des Donnerstags ein und stellen ihr Zelt oder ihren Pavillon, also ihr temporäres Wohn- und Schlafzimmer, auf dem Eisenmarkt auf. Dazu ist keine Anmeldung nötig, man zahlt kein Entgelt in irgendeiner Form, man kommt einfach her, stimmt sich mit den Nachbarn ab und stellt sein Zelt auf. Im Laufe des Tages füllt sich der Platz, am folgenden Freitag werden die umliegenden Altstadtgassen bis hinunter zum Rhein mit Beschlag belegt. Es geht familiär zu. Da steht ein Fass, dort ein Grill. Auch in unserem Pavillon kommen im Wesentlichen jedes Jahr dieselben Personen zusammen. Man kennt sich schon seit Jahren, teilweise sieht man sich nur zu diesem Biwak, dafür aber alljährlich. Zur Begrüßung gibt es ein großes Hallo und Hurra, man erzählt sich in fröhlicher Runde die Neuigkeiten des abgelaufenen Jahres, es geht fast zu wie auf der Familienfeier an Omas Geburtstag. Das ist auch kein Wunder, geht doch die Altersspanne der Teilnehmer unserer Runde über drei Generationen. Jeder bringt Proviant mit und teilt es mit den übrigen. Was aber, wenn man mal etwas Heißes essen will oder mal pullern muss? Auch dafür ist gesorgt, nämlich vom Hänneschen Theater. Während der gesamten Biwak-Zeit, also rund um die Uhr, hat das Theater seine Pforten geöffnet, man kann die Toiletten benutzen, es gibt Kölsch vom Fass und zu jeder Zeit eine heiße Gulasch- oder Erbsensuppe. Manch einer ist die ganze Zeit hier, die meisten aber kommen für halbe Tage oder die Nächte, halt so wie sie sich frei machen können. Warum dann das Ganze? Der innerste Kreis um die Eingangstüre des Theaters war als erstes da, die nächsten siedeln darum herum. Wer zuerst kommt, steht am Samstag ganz vorn in der Reihe und hat die freie Terminauswahl. Irgendwann geht ein Kontrolletti des Theaters durch die Reihen der Zelte und gibt jeder anwesenden Person ein farbiges Nümmerchen. Irgenwann geht er wieder herum und tauscht das Nümmerchen gegen eines mit einer anderen Farbe. Wer nicht anwesend war, bekommt kein neues Nümmerchen. Dies wiederholt sich noch ein bis zwei Mal. Deshalb ist man in den Gruppen nach Schichtplan anwesend, damit immer dieselbe Anzahl Menschen in einer Gruppe vorhanden sind. Am Ende hat jeder gegen Vorlage des letzten Nümmerchens das Recht auf den Kauf von maximal zehn Karten. Diese werden schließlich bedarfsgerecht in der Gruppe aufgeteilt.“

 

r fahre met d´r Stroßebahn

Köln, Veedel Mülheim, OZ 19/02/2020, früher Abend: Nach der oben beschriebenem Anti-Klüngel-Aktion klüngelt (das neudeutsche Wort dafür heißt Networking) die kölsche Fründin wieder ohne Bedenken und zwar mit dem KVB. „Me fahre KVB“, heißt es in dieser Stadt – mit ganz unterschiedliecher Betonung und Begeisterung. Jedes Jahr an Karneval zeigen die Kölner Verkehrsbetriebe allerdings, was öffentlicher Nahverkehr vermag. 2020 werben sie: „Mit Bus und Bahn beschwingt durch die Karnevalszeit – Jetzt gibt es (k)ein Halten mehr“ und so eine Straßenbahnfahrt zur 5. Jahreszeit …. „Weißte wat, mr fahre met dr Stroßebahn noh Hus“ … empfiehlt Karnevalistin Marie-Luise Nikuta schon Jahrzehnte zuvor.  Im Orchester der Straßenbahnbetreiber spielt Ediths Mitwalkerin Brigitte und hat von dessen Leiter, der wiederum in der „Lachenden Köln-Arena“ (allein schon beim Titel geht der nordische Jeck auf dezente Distanz: Was da wohl auf sie zuschunkelt?) auftritt, einen kleinen Haufen Freikarten fürs Riesen-Event. Selbst die einheimische Expertin Edithwar noch nie zum Lachen in der Arena: Sie kündigt eher proletarische Inhalte an, was aus dem Munde einer eingefleischten Gewerkschafterin allerdings anziehend klingt. Aber wer zur Hexe und zum Teufel gehört heutzutagezum Proletariat? Die Texte erfordern kein Studium, werden laut und deutlich intoniert und auf dem gigantischen Videowürfel gut lesbar eingeblendet. Es geht stundenlang ausschließlich um die Stadt am Rhing(reimt sich auf: wo ich jroß jeworde bin und meint den Rhein, woanders kann es nämlich gar nicht schön sein), die Liebe zu Kölsche Mädcher oder Junge und zu Kölle.Vorher müssen Edith, heute als Engelche und Vera, heute als Fischkopp (Plastikfisch mit Gummiband am Südwester befestigt, Troyer und Friesennerz an und Schluss) auf die „schäl Sick“ , wie die Viertel am gegenüberliegenden Rheinufer genannt werden- schäl bedeutet je nach Bedarf schielend, falsch, unansehnlich, schlecht. Sie steigen in die Katakomben der von einem unaussprechlichen Chemie-Konzern gesponserten Feierhalle, in eine unterirdisches Parkhaus für tausende Automobile und -busse. Dort kann man lange Fußwege zurücklegen und muss den Künstlereingang finden. Der ist heute daran zu erkennen, dass Tanzgruppen in maßgeschneiderten glänzenden Gewändern ausgeladen werden. Junge Damen klettern aus Reisebussen, stecken Trommelschlegel in die Stiefel, kichern nur wenig und stolzieren diszipliniert davon. Der gängige Schönheitsterror von Instagramm & Co ist hier scheinbar machtlos: Sie tragen ausnahmslos beigefarbene Strumpfhosen und sehr kurze weite Röckchen. Geht doch. Die Herren tragen in dieser kleidsamen Karnevalsuniform, dieser nie aus der Mode kommenden Preußen-Persiflage, die jedem steht, unterschiedlich große Bäuche vor sich her und rauchen noch eine vorm Mariechen-Werfen. Politisch korrekt ist starre Geschlechterkostümierung nicht, wie die Kölner Stadtrevue in „Blootwoosch, Kölsch un #MeToo (angelehnt an „Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche“, den 1998er-Song der kölschen Band Höhner) – Wie sexistisch ist der Karneval“ anmerkt. Aber das Verulken von Militär ist in unserer Jetztzeit toppaktuell und die ursprüngliche Triebkaft des ganzen Treibens vorm Osterfasten. Das erklärt das Kölsch-Wiki folgendermaßen: „Nunneja, im 30-järrijje Kriej do es et esu jewäse: Mir Rhingländer moote widder Wille och kempfe. Ävver mir hatte kee Luss! Dann hamme mer ejnfach beukottiert: Mir dääte mit Kamelle scheeße, worfe Strüßje un spillten lustijje Muusik. Esu erjoov sich dat.“ Verstanden? Bonbons statt Bomben! Das imponiert der Hamburgerin und auch, dass hier jeder noch so kleine Stadtteil oder Vorort mit eigenem Ensemble unterwegs ist. Der KVB-Orchesterleiter spielt heute ein Blasinstrument. Vorher steckt er dem Engelchen aus Köln-Lindenthal noch zwei Kärtche zu. Der Weg zu Block 213 ist weit. Durch die ausgedehnten Gänge und Hallen oberhalb der Bühne am Grunde der Arena, wo sonst Eishockey tobt, wogt alles, was die Karnevals-Supermärkte –  im Sortiment haben. Fertigkostümteile, und dennoch zum Schlapplachen. Kommt immer drauf an, wer sie an welchem Körperteil montiert. Wer steckt wohl in dieser Pippi Langstrumpf mit den hängenden Schultern? Gruppen glitzern im gleichen Farbton, eine Herde von Zwergen ist zu identifizieren. Hirschgeweih-Haarreif ist angesagt 2020: zurück in den Wald? Gestreift geht immer. Der Fischkopp ist heute der einzige seiner Art – aber insgesamt nicht allein im Jecken-Wald. Ein anderer Gast aus dem Norden outet sich am nächsten Tag, sein Zeitungsartikel, den Edith ihrem Gast aus dem Norden unter die Nase hält, heißt „Ein Fischkopp in der Lachenden Kölnarena“. Der hatte aber keinen Fisch auf dem Kopf …. „Acht Jahre habe ich meinen Fischkopp erhobenen Hauptes durch den Karneval getragen“, schreibt der Kunstkritiker des Kölner Stadt-Anzeigers. Für seinen „Selbstversuch im Zentrum des Frohsinns“ geht Michael Kohler als Panda. Er hat wohl lange nicht soviel Vergnügen wie seine norddeutsche Landsfrau, aber an der Bühnenshow nichts auszusetzen. „Alles ist absolut professionell, Las Vegas kann in der Kölnarena womöglich noch etwas lernen über gute Laune im Akkord“, schreibt er in seiner Frohsinn-Kritik.

 

Kölsch un e lecker Mädche?

Und die Lachende? Schon 1965 gibt  es mit der Lachenden Sporthalle die erste „Lachende-Veranstaltung“ in Köln. 1999 wird daraus die Lachende Kölnarena. Die ist nicht nur in Köln Kult, auch aus dem Umfeld, und sogar aus Norddeutschland reisen pro Vorstellung Jecken an. Die Spielregeln für Besucher der Lachenden Arena sind volksnah: Mitgebrachte Speisen und Getränke dürfen verzehrt werden; und Mitsingen ist Pflicht. Der Chor der 10.000 singt unter anderem Lieder von: Willi Ostermann, Bläck Fööss, Höhner (Hühner), Paveier (Plattenleger, siehe „pavement“), Räuber, Querbeat (aufgezählt in historischer Reihenfolge) und ist größtenteils textsicher. Tausendmal gesungen. Stundenlang gesungen. Getanzt wie jeck.Ein Riese tritt auf, die Zwerge jubeln. Es ist der Buur vom Dreigestirn, er erinnert an Rübezahl und guckt so, als könne unter seiner Obhut nichts Schlimmes passieren. „Et kölsche Dreijesteen“ ist nach Auskunft des einschlägeigen Wikidie eijentlische Rejent en de Session. „Et besteeht us däm Prinz, dem Buur un dä Jungfrou. … En ener Sitzung ees dä Auftritt vum Dreijesteern dä Hühepunk. Dä Prinz begröss dann sing närrisches Vulek un deit se dran erinnere dat se veel Spass han sulle un nitt emmer alles su eerns nemme sulle.“ Alles klar? Prinz, Jungfrau und Bauer sind die drei wichtigsten Karnevalisten. Für fünf Tage wird Kölle von diesen drei kostümierten Herren regiert. Die Trinität 2020 kann sich sehen lassen: Der Prinz ist klein und zart und spielt Dudelsack, die Jungfau ist lang und schön, der Bauer noch länger und viel breiter. Die Wahl zum Dreigestirn passiert untern Insidern im Kern des Klüngels. Männer sind sie alle drei. An diesem Gebot wird gerüttelt, denn das Gendern ist bereits in die rheinische Hochburg der Geschlechtertrennung vorgedrungen. Junge Wiever streben gar das Prinzenamt an. Wie wird eine Prinz? Das wird sich zeigen. Derweil besingen alle, wirklich alle, mit  „Eimol Prinz zo sin …“ den Jungentraum von der Prinzenrolle – nein, nicht von den Keksen. 

 

Asch huh un Zäng ussenang

Auch Marita Köllner leistet ihren Beitrag zur Gender-Debatte. Schon im Alter von zehn Jahren steigt sie in die Bütt. Ihr Fussich Julche (Rothaariges Julchen) setzt sich in der Männerdomäne Karneval als Rednerin durch. Die Bütt – ein alter Begriff für Bottich, hier ist das Redepult der Narren gemeint – ist nach uraltem Brauch rechtsfreie Zone – hier darf nach ursprünglicher Ansage jeder frei von der Leber weg über die Obrigkeit herziehen, jeder wohlgemerkt. Köllner, eine von ganz wenigen Büttenrednerinnen, sagt im Interview der Stadtrevue: „Als Frau gestand man ihr nur wenige Themen zu“. Sie durfte in der Bütt Politik nicht berühren. „Auch Zoten gingen nicht, da pfiff mich der Präsident sofort zurück“. Bis heute haben Frauen laut Köllner „noch nicht den Stellenwert, den sie verdienen“. Viele Sitzungsleiter nähmen noch heute keine Frauen ins Programm, „oder höchstens eine, dann ist genug.“ Auf Karnevalstraditionen lässt sie dennoch nichts kommen, auch nicht auf die Riten Roten Funken, obwohl ihr Verein sie als Ehrenmitglied nicht im Rosenmontagszug mitlaufen ließ – davon hatte sie schon als Kind geträumt. Köllner durfte nur als Marketenderin auf dem Wagen mitfahren. 1988 verfasst sie gemeinsam mit Henning Krautmacher, dem Leadsänger der Höhner, zu ihrem zwanzigjährigen Bühnenjubiläum „Mir sin kölsche Mädcher“. Dieser Song macht sie zur Sängerin. Der Refrain mit den „Spetzebötzjer“ (Spitzen-Unterhosen), an die Unverheiratete keinen ranlassen, wird gerne genommen und Köllner bejubelt, als sie ihn persönlich in der Arena vorträgt.

Beim Jubeln weiß der Fischkopp noch immer nicht, welche Hand eine zum Alaaf hebt, und wie, damit es nicht nach Hitlergruß aussieht. Das will an diesem Abend fast niemand unter den Tausenden in der Arena, wo Peter Brings ruft zur Demokratie aufruft. Der Leadsänger mit der knarrenden Stimme macht zunächst seiner Rockband einen Namen, nämlich „Brings“. Nach dem Riesenerfolg ihres Titels Superjeilezick (Supergeile Zeit) wechseln sie zu Mundart-Rock´n Roll – superjeil finden das die Fans, und auch, dass Brings gegen Ausgrenzung aufsteht, lange bevor der Nazi-Terror wirklich für jeden unübersehbar wird.  Zusammen mit anderen Bands gründen die Musiker „Asch huh, Zäng ussenang“: Die Initiative der Kölner Musiker fordert uns alle zu mehr politischer Mitsprache auf. Franz-Albert Krämer ist dabei. In seinem  Leserbrief an den Kölner Stadt-Anzeiger plädiert er für ein politisches Karnevalsmotto: „In der heutigen Zeit Haltung zu zeigen kann nicht hoch genug bewertet werden. Jeden Tag muss die Demokratie aufs Neue gelebt werden, ein „Es wird schon gutgehen“ hilft da nichts.“ Dass die Mottowagen in Köln jetzt politischer werden und Haltung übermitteln, macht ihn zuversichtlich. Das Motto von Peter Brings, „Kein Kölsch für Nazis!“ sieht er auf Bierdeckeln richtig platziert. Als Motto für eine Karnevalssession sagt dem Leserbriefschreiber der Vorschlag von Sarah Brasack zu: „Wir sind bunt, nicht braun!“ Peter Brings legt uns in „der Lachenden“ die Liebe ans Herz. Make love not war auf kölsch. Da simme dabei. Nach seinem rockigen Ruf nach Demokratie gehen sehr viele Lichter an.

 

Randale und Hurra

Wir brauchen jedes Licht! In dieser Nacht passieren die rassistischen Morde in Hanau. Der Fischkopp hat einen Anfall von Fremdenfeindlichkeit. Fremd sind ihm diese Menschen, die sich und andere in solche Hetze hineinsteigern, ist der Mechanismus auch noch so überholt. Deutsch ist ihm der knallbunte Flickenteppich aus diversen Fürstentümerchen, der die Basis für diese Republik darstellte, die Leute, die damals die Ersten waren, die auf Schwarz-Rot-Gold schworen und immer wieder die Antifaschisten, die im Kampf für die Freiheit ihr Leben gelassen haben. Und in Sachen Heimat hält er es mit Jojo Berger, dem romantisch-radikalen Sänger von Querbeat. In der Kölnarena präsentiert er sich als: „Hybrid aus Randale und Hurra“. Seine mittlerweile 13-köpfige Brass-Band wird 2001 vom Trompeter bei Köbes Underground der Kapelle der Kölner Stunksitzung (siehe unten) als Schulband gegründet. In der Kölnarena rennt Berger mit E-Gitarre über die riesige Bühne, die Bläser*innen wogen hinterher, er singt von seinem Dorf, reklamieren schön und schräg das Wort Heimat – und schwenkt eine Europafahne. Im Sternenkranz steht: „Heimatkaff“. Neue Heimat? Damit ist Querbeat Willi Ostermann auf den Fersen, für ihre Altersgruppe Ururgroßvater. In dessen Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts erlebt er durchziehende Militärmusikkapellen, fertigt mundartliche Parodien auf Gedichte und weiß stets die neuesten Karnevalslieder auswendig – da kann nebenbei der Fischkopp mit dem Südwester mittlerweile ganz stolz mithalten. Ostermann wird er Mitglied in einer Laientheatergruppe, sammelt Erfahrungen mit einem Puppentheater und trägt bei Familienfeiern und in Gasthäusern eigene Gedichte und Lieder vorgetragen, hauptsächlich in kölscher Mundart, auch als Krätzchensänger: Das Krätzchen (auf Kölsch: Krätzje, Krätzge, Mehrzahl: Krätzjer) ist eine humorvolle Erzählform für lustige Begebenheiten oder Streiche innerhalb des, die auch als Gesangsvortrag dargeboten werden kann. Die Bezeichnung ist auf die Verkleinerungsform Krätzchen für kleinen Riss, Schrämmchen, Streich, Schlag, Stoß, Hau, Hieb; im übertragenen Sinne für Ulk, lustigen Streich, Schnurre oder Schwank zurückzuführen. Inhaltlich ist es eine kurz gefasste lustige Begebenheit, die in der Regel von einer Pointe abgeschlossen wird. Das Krätzchen wird auch als Hauptausdrucksform des rheinischen Humors bezeichnet, vor dem kürzeren Witzund dem Verzellche, einer längeren Geschichte. Es wird mündlich auf langsame, pausenreiche Weise vorgetragen, oft mit starker Betonung oder Betonungswechseln. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts werden Krätzchen wie folgendes in Witzblättern abgedruckt: „Drei kölsche Jungens kommen in eine Apotheke. Der eine verlangt für zehn Pfennig Salmiakpastillcher. Etwas mürrisch klettert der Provisor die Leiter hinauf, langt den Topf herunter, wiegt ab und stellt den Topf wieder hinauf. Jetzt fragt er den zweiten Jungen, was er wünscht und knurrt mächtig, als der Junge auch für zehn Pfennig Salmiakpastillcher haben will. „Das hätte er doch gleich sagen können usw.“ Nachdem er diesen Jungen nun auch bedient hat, fragt er gereizt den dritten, einen kleinen Krott: „Na, du willst wohl auch für zehn Pfennig Salmiakpastillcher haben?“ – „Enä“, lautet die Antwort. – „Das ist aber auch dein Glück, was willst Du den haben?“ – „Für fünf Penning Salmiakpastillcher.“ Ein Krätzche (auch Krätzge oder Krätzje, im rheinischen Regiolekt Krätzchen) bezeichnet im Kölner Raum aber auch mundartlich Lieder, die lustige Begebenheiten oder Streiche erzählen. Der Krätzchesgesang zählt zu den ältesten Liedvortragsformen im Rheinland. Er ist äußerst sparsam instrumentiert und wird langsam dargeboten. Die Pausen sind bewusst gesetzt. Die dargebotenen Alltagsschwänke sind meist Geschichten mit Biss und Hintersinn, gelegentlich auch nachdenkliche.


Wenn ich su an ming Heimat denke

Krätzchen-Sänger Ostermann kann keine Noten lesen und schreiben. Er bringt seine Kompositionen singend auf Tonträger – anfangs Wachswalze oder Zinkplatte, sein Schlager „Drum sollt’ ich im Leben ein Mädel mal frei’n, dann muss es am Rhein nur geboren sein“) geht mit einer Million Auflage durch die Plattenpresse. 1930 gibt Ostermann das humoristische Wochenblatt „Tünnes un Schäl“ (siehe unten) heraus, im selben Jahr entsteht sein Evergreen„Och, wat wor dat fröher schön doch en Colonia“ (Ach, was war es früher schön in Köln). Der Fischkopp mag daraus besonders die Zeile: „wenn der Pitter Ärm in Ärm mit Apollonia auf dem Heimweg still und leis zu knutschen anfing“ oder so ähnlich … und besucht denGrabstein von Willi Ostermann bei der legendären Führung „Karnevalisten auf Melaten“. Bei Ostermanns Beisetzung dort säumen 35.000 Zuschauer den Trauerzug vom Neumarkt zum Melkten-Friedhof. Kölns Geschäfte schließen, bis der Tote im Frack im städtischen Ehrengrab beigesetzt wird. Am offenen Grab trägt ein Karnevalist zum ersten Mal den Refrain des letzten Ostermann-Liedes „Heimweh nach Köln“ vor. Es wird nach seinem Tod zu einem der bekanntesten dieser typisch melancholischen Stimmungslieder: Wenn ich su an ming Heimat denke; un sin d’r Dom su vör mir ston; mööch ich direk op Heim an schwenke; ich mööch zo Foß no Kölle gon. Die Stadt-Hymne – sie bleibt unschlagbar, bis die Bläck Fööss mit „In unserem Veedel” gleichziehen, wie es sich 2020 anhört – verfasst der Kölner Komponist und Liedermacher kurz vor seinem Tod, 1936. Im März dieses Jahres sind Truppen der Wehrmacht in Köln einmarschiert und bald darauf verbietet eine Heeresverordnung das Singen und die Aufführung dieses Titels. Offenbar passt das zum Ausdruck gebrachte sehnsuchtsvolle Heimweh nicht zu den verlangten Durchhalteparolen im Krieg. Gut 80 Jahre später steht in Köln der 75. Jahrestag des Kriegsendes bevor – am 6. März 1945 erreichen amerikanische GIs den Dom, Köln finden sie als „dead City“ vor. Schon im November 1945 feiert man den Start der Session mit Karnevalssitzungen in den Trümmern, vier Jahre später startet die erste „Kappenfahrt“, so heißt damals der Rosenmontagszug. Die Bläck Föös singen später: „Du hast den Krieg fast mit dem Leben bezahlt, doch se ham dich wieder aufjestallt“. In der Lachenden Kölnarena lässt sich 2020 ein Akkordeonspieler jedes Ostermannsche kölsche Wörtchen auf der Zunge zergehen. Auf dem Videowürfel erscheinen Gruppen und Paare mit beseelten Gesichtern, eins schöner als das andere. Tänzer werfen ihre Kolleginnen durch die Luft. Die Damen fliegen so weit, dass es aus der oberen Reihe ohne Gleitsichtbrille zu sehen ist. Nach Mitternacht fahren die beiden Jecken met dr Stroßebahn noh Hus.

 

Zwischen Himmel un Ääd

Köln, Veedel Lindenthal, OZ 20/02/2020, 11:11 Uhr: Weiberfastnacht (siehe auch „Sie sind ein Verkehrshindernis – Fischkopp im Karneval (Teil 3)) beginnt mit einem Einkaufsbummel: Salbei und Thymian für die geplagten Atemwege (auch wenn der Corona-Schock noch aussteht, als Köln in seine fünf speziellen Tage startet) , Mutzen, Eierschecken, Rheinisches Schwarz- und Brauhausbrot sowie Flönz als Kaloriengrundlage („Karneval ist anstrengend“, sagt Edith). Die junge Verkäuferin in der handwerklichen Metzgerei weiß gerade mal, was Flönz ist, nämlich laut ksh-wiki „jet Ähnliches wie de Blodwoosch“ und wird „och us Blod unn Würfelcher vum Sauspeck gemaht. Ävver Flönz weed gekoch un Blotwoosch geräuch. Un deswäge es Flönz wabbelig un Blodwoosch bliev och in dä Pann stiev“. Flönz kann man als Kölsche Kaviar (kalt mit einem Roggenbrötchen, Senf und kleingeschnittenen Zwiebeln; hat nichts mit russischem Kaviar zu tun) essen oder gebraten mit Himmel un Ääd. Die junge Verkäuferin weiß nichts darüber, und verkauft Vera Blutwurst statt Flönz. Edith erläutert, dass alle echte kölsche Wiever, die normalerweise hinterm Thresen stehen, frei haben an Wieverfastelovend. Dieser inoffizielle Feiertag endet zwar wörtlich genommen je nach Mundart auf Nacht oder Abend, beginnt aber zum Beispiel in Ediths Veedel Lindenthal mit morgendlichem Schlangestehen vorm alteingesessenen Haus „Schwan“, wo die Feierlichkeiten um 11:11 starten. Im regionalen Obst- und Gemüseladen (Obs un Jemös, siehe Foto!) nebenan weiß die Händlerin, mir die richtigen Äpfel (Boskop) und die richtigen Ärdäppel (mehligkochende Kartoffeln) zu verkaufen und die Zubereitung von Himmel un Ääd zu erklären, das ist Apfelkompott mit Kartoffelpürree.


Auf der Straßenbahnfahrt in die Südstadt erläutert Edith, diesmal im Teufelsornat mit richtungsweisendem Dreizack, die derzeitige Straßenkarnevalsregelung: Weit ab von den traditionell kultivierten Umgangsformen urkölscher Jecken, die sich selbst im dicksten Jewöhl voller Zartjeföhl bewegen, ergeben sich in der Kölner Altstadt manche Touristen und im Univiertel manche Studenten dem Komasaufen und Wildpinkeln, dem Rumgröhlen und Umfallen – unter Aufsicht staatlicher Ordnungskräfte. Für die Jugend riegeln sie die Zülpicher Straße ab, an den Eingängen müssen unter anderem Glasflaschen abgegeben werden. Inzwischen gibt es Überlegungen, die vielen Transporte von bewegungsunfähigen Volltrunkenen in die Klinik kostenpflichtig zu gestalten, handelt es sich ja weder um Krankheit, noch um Unfall. Tragische Unfälle geschehen auch häufiger als in alten Zeiten, weswegen an vielen Straßenbahnübergängen Ordner in Warnwesten für mehr Aufmerksamkeit sorgen. Nach Durchqueren des Univiertels wird die Kommunikation in der Bahn verständlicher und zwei sehr verschiedene Karnevalspaare („Nie mehr Fasteloovend … ohne dich“) fotografieren sich gegenseitig. Das junge Duo stürzt sich zum ersten Mal gemeinsam in den Straßenkarneval, die beiden Freundinnen im 30. Jahr.

Auf dem Chlodwig-Platz hat sich um das jährliche Schauspiel von „Jan un Griet“ (siehe „Sie sind ein Verkehrshindernis -Fischkopp im Karneval (Teil 3)) eine vielperückige und -hütige Jeckenmauer aufgebaut. Nur elastisch-stetiges Schlängeln verschafft Sicht aufs Geschehen vorm Severinstor, die „statsen Junger“, eher mittelalte Herren auf den zweiten Blick, vom Reiterkorps „Jan van Werth“ und den diesjährigen Jan, der in seiner Abschluss-Ansprache die versammelten Jecken eindringlich auf das Verbindende im Karneval hinweist. Edith hat inzwischen Brigitte, das ist die, die im KVB-Orchester spielt, im Früh (Brauhaus Früh am Chlodwigplatz) aufgegabelt und führt uns, den roten Dreizack hoch erhoben, zu einer Pool-Position an der Severinstroß, wo wir in der ersten Reihe „de Zoch“ begucken sowie „Kamelle, Strüßjer, sure Jurke“ erbeuten können. Ein Einwurf zum Wurfmaterial von Kölsch-Könnern: Auf „Ripoarisch Platt“ (die Mundart Ripuarisch ist unter anderem aus Italien eingewandert, siehe auch: „So sind ´me all hierher jekomme und sprechen hück all dieselbe Srook, wir ham dadurch soviel jewonne…“), wenn einer nichts zu sagen oder zu erzählen hat: Dä hät nix zo kamelle! Angesehener sind in dieser Region Menschen, die die Zäng ussenang kriegen und auch mal Kamelle verzälle. Das ist nämlich die andere Bedeutung des Wortes: Geschichte, Story. Andererseits ist laut khs.wikipedia en Kamelle; „wat do an ding Kappes (Kopf) kress wann do beim Zoch (Karnevalsumzug) nit richtich opjepaaß häßß. Mer kann se esse oder och lutsche. Kamelle sinn fröher ußß Karamell jemaat woode, unn däsderwäjje hätt se sing Noom jekrisht. Hückzedaach jitt_et all Jeschmacksrishtunge, vunn Kola bėß, jo, Himmel unn Ääd (siehe unten) oder sunz watt. Kamelle kannze joot schmieße unn däswäjje sinn se de Houpwurfjeschoßß beijm Karnevalszoch. Strüßjer, Bäll unn Kooche (Kuchen) wėėde zwar och jeschmeßße, äwwer de Kamelle sinn dat wishstishste. Se sinn daher och en Aat Sümbol för der Karneval. Wann wer Kamelle roof, weijß jeder watt jemeint ėßß: Kamelle, dä Prinz kütt. … Tüppisch ėß en Papierhülle om jedet eijnzelne Kamellscher.“ Unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit geht das gar nicht, das Werfen von winzigkleinen einzeln verpackten Süßigkeiten, aber karnevalistisch betrachtet symbolisiert das Werfen von Leckereien symbolisiert das Prinzip des Gebens. Die Hexe aus Hamburg hebt ihren schwarzen Umhang und ergattert Gummitierchen, Kekse, Schokolade. Abseits von der Altstadt mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen und vollgepissten Gassen entfaltet sich in der Südstadt wenige Stunden nach der pünktlich um 11:11 Uhr erfolgten Übergabe der Stadt an die Jecken eine in ihrer Behaglichkeit altertümliche Karnevalsidylle. Es ergibt sich die Gelegenheit zum Plaudern und zum Verschenken von Strüßjer (von den Wagen geworfenen Blumensträußen).

 

Maach noch ens die Tüt an

Weiter also mit den Kamellen vom Wieverfastelovendzoch: Dieser Umzug anlässlich des Schauspiels von Jan und Grietist klein und fein. Die Herren haben ihre schwarzen Rösser gut im Griff, auch die Damengarde weiß, was sie tut.Das begeisterte Publikum stimmt in jede Melodie ein, lässt sich unter kindlichen Rufen mit Bonbons berieseln. Der Teufel neben uns ruft jedes Mal, wenn ein Wagen vorbeikommt, erfolglos „suure Jurke!“. Das Erlebnis-erprobteund dennoch zuEntzücken fähige Wiever-Dreigestirn aus Clown, Teufel und Hexe leuchtetzwischen den anderen Stars der Straße.Die Hamburgerin hat sich in schwarze Strumpf- und Wollhosen, dicke Socken, feste Schuhe, T-Shirts, Jacke, Umhang, Schultertuch gehüllt, ist mit der langen Hakennase, die hier in der Südstadt heute die einzige Vertreterin ihrer Zunft, wird mehrfach zuinternationalenFoto-Shootingsgebeten und fragt sich, wo diese Bilder jetzt wohl rumschwirren. Diese Hexe fliegt jetzt auch digital um die Welt.Und tanzt wie doll auf dem Chlodwigplatz, die Füße fest auf dem alten Pflaster, zwirbelt sie sich zu kölschen Tön um die Spitze ihres hohenHutes. Dort entfaltet sich nun das Närrische in einer Version aus dem vergangenen Jahrhundert oder noch älterer Zeiten, in vorzüglicher Hochachtung voreinander. So lässt es sich ausflippen oder still genießen. Wie zauberhaft, diese Libelle aus dem Zeitalter des Artensterbens, lang, zart, Kugelaugen schweben über dem Kopf, durchscheinende Flügel aus Knallfolie hängen auf dem schmalen Rücken. Auch die Queen kommt vorbei, auf ihrem Thron, den trägt der britisch Kostümierte vor sich her. Echter handgemachter Mummenschanz, wirkt voll real. Edith gerät mit einer Altersgenossin ins Verzellen (Gespräch), deren Kinder lassen die Umstehenden an „de Tüt“ („Maach noch ens die Tüt an“ lautet die einschlägige Aufforderung zur Superjeilezock) schnüffeln. Apropos Anbieten: In der Schlange vorm Dixie-Klo bekommt die alte Hexe von einer Jungen einen Schluck aus der Bierdose angeboten. „Drink doch eine met“ lautet eine der Slogans der Bläck Fööss, gegen Ausgrenzung zum Beispiel von Menschen, die sich keinenDrink leisten können.Die Hexe lehtn dankend ab, auch wenn die Corona-Schlagzeilen den Chlodwigplatz noch nicht erreichthaben. Dort trägt ein Ordner  freundlich grinsend ein Fahrrad davon samt Schild: Wegen Karnevalsumzug keine Fahrräder mehr hier abstellen. „Herrlich, herrlich, herrlich!“ finden die drei Weiber die Stimmung und kehren bei Merzenich ein. Auch dort spricht man miteinander – und nicht übereinander, staubt mit Berlinern und Muzen(Schmalzgebäck mit besonders viel Puderzucker), verabredet sich für die nächste Runde.Edith und Vera fahren dann ins beliebte Viertel Sülz, wo das Bärbelsche Herinsstip mit Bratkartoffeln serviert und wir über die ernste Lage der Welt außerhalb dieser Ortszeit hier sprechen. Bärbel und ihre Psychologen-Kollegen sinnieren darüber, wie und ob sich Klimakrisen-Verleugner von ihrer prätraumatischen Belastungsstörung heilen lassen. Die diesjährige Stunksitzung, Keimzelle all der alternativen Karnevalsveranstaltungen, gucken sich der Hamburger und der Kölner Jeck im Fernsehen an. Jungfrau Maria tritt auf, sie fühlt sich vom Patriarchat verarscht, der forcierte Frohsinn der üblichen Sitzungen wird mit einer Band namens „Die Stöhner“ auf die Schippe genommen und einem Sitzungspräsidenten, der den nächsten Tiefpunkt missmutig ankündigt und zum Sitzenbleiben auffordert. 33 Jahre „Köbes underground“, so lange gibt es die Band des Stunksitzungs-Kommites, ihr Leadsänger tritt mittlerweile in der Philharmonie mit Orchesterbegleitung auf.

 

Fischernetze sind aus

Köln, Veedel Frechen, OZ 21/02/2020, gegen Abend: Am nächsten Karnevalstag machen sich Edith und Vera ins Frechener Gewerbegebiet auf, in ein Mekka der Auto- und Einkaufswagenfahrer, zu Deiters. Dieses Karnevals-Kaufhaus ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit, viele, viele Quadratmeter Plastik-Wegwerfartikel. Alles, was Menschen früherer Epochen zur Fastnacht selbstverständlich selbst gemacht – oder gar nicht gebraucht – haben, gibt es hier vorgefertigt. Man tritt aus der Umkleidekabine, aus der Alltagsnorm in die Karnevalsnorm für Matrose oder Prinzessin. Aber Ediths Heiligenschein ist kaputt. Und Edith sie findet zwischen der Abteilung „Federn“ und der Abteilung „Flügel“ einen neuen; und auch eine oversized Kapitänsjacke und –mütze. „Charisma für 26,50 Euro“, lästern wir über uns selbst. Auf der anderen Seite gibt es das Männerkostüm stereotyp statt mit Hose mit Miniröckchen und bauchfrei für die Matrosin. Extrem angesagt sind 2020 Trainingsanzüge Modell 1980er-Jahre. Sie wissen schon, diese fiesen Farben … Edith bekommt auf Nachfrage erläutert, man beziehe sich damit unter anderem auf die spätere Jugend der Fragerin und auf einen gewissen Michael Wendler. Möglicherweise ist der deutsche Schlagersänger und Komponist in den 1980er-Jahren in so einem rosa-türkis patchworkartig gemusterten Outdoor-Outfit aufgetreten. Genaueres ist zum Blog-Zeitpunkt nicht bekannt. Vera hätte gerne für ihr Fischkopp-Kostüm noch das passende Netz gehabt. Aber Deiters ist schon ziemlich leergefegt: „Fischernetze sind aus – schon länger!“

Köln, Veedel Altstadt, OZ 22/02/2020, 19:19 Uhr: Im Hänneschen-Theater haben sie in diesem Jahr Puppen gebaut, die die treuen Gäste beim Biwakieren auf dem Isemaat darstellen. Edith als bildschöner Teufel und der Hamburger Jeck als Fischkopp haben dort Babs und Tonne getroffen, mit denen Edith auf die Klosterschule gegangen ist, sowie Bärbel und Brigitte. Sie nehmen auf Holzbänken Platz, fast wie in der Kirche, singen ohne Gesangbuch „Am Eigelstein es Musik – am Eigelstein es Danz; jo do pack dat decke Rita – däm Fridolin … am Eigelstein es Musik“. Und diese Stabpuppen, die sofort nach ihrem Auftritt zu eigenwilligem Eigenleben erwachen, zur Wahrheitsfindung drastisch übertreiben, sie sind anbetungswürdig, zeigen wie es war, wie es ist und wie es sein könnte, zum Beispiel mit einem weiblichen Karnevalsprinzen oder E-Rollatoren statt E-Scootern oder einer Großeltern-Enkel-Partei. Das Ganze spielt in Knollendorf,einem fiktiven Raum. Diese Wirklichkeit, die nur hier existiert, darf man laut offizieller Angabe am Stadtrand von Köln vermuten, „an der Stadtmauer, dort wo das bäuerliche Umland anfängt“. Dort verehrt das Hännesche (Röggrat: aufrichtig, schlagfertig, überschäumend begeisterungsfähig“) das Bärbelchen (Aufjab: mäßigt das Hänneschen); gibt sich der ledige Tünnes aus dem Kölner Umland (Op jot Kölsch: Ene Levenskünstler) seiner Schwäche, dem Schabau (Schnaps) hin, während sein Sohn, das Köbeschen, altklug seines Vaters Ansichten zum Besten gibt und prächtig auf ihn aufpasst, und sein Gegenspieler, der Städter Schäl (Röggrat: eher keins; in mehrfachem Sinne schäl) den Sitzungspräsident der Puppensitzung gibt, geärgert von seiner Tochter Röschen (Op jot Kölsch: Killerzwerg met kluge Wööt) und vom Speimanes (Schwäche: sehr feuchte Aussprache bei den Lipplauten „B“ und „P“; stottert); Polizist Schnäuzerkowski (Aufjab: strenger Vertreter der Staatsgewalt) karikiert das nach Köln versetzte preußische Beamtentum; Besteva (von Bester Vader/Großvater) flieht öfter mal vor seiner Frau Bestemo (von Bester Moder/Großmutter; Schwäche: kann Liebe nur durch Gekeife ausdrücken); Mählwurms Pitter (Röggrat: läuft nur, wenn einer die Zeche prellt) führt die Stammkneipe und Zänkmanns Kätt (Röggrat: sieht alles, hört alles) sorgt für Chaos und Missverständnisse. Das Ensemble führt die Stockpuppen selbst – spricht, singt und spieltlive, es dauert übrigens ungefähr fünf Jahre bis man diese Puppen so jeck tanzen lassen kann, das Puppenhandwerk beherrscht.

Das Publikum ist einhellig hingerissen, lacht sich schlapp. Manche kriichen heimlich im dunklen Zuschauerraum, als die Puppen, Volkslieder rappend, die deutsche Fahne schwenken und das Schwarz-Rot-Gold für Demokratie in Anspruch nehmen. Wat morjens passeet, kütt ovends op et Tapet (Tischdecke)“, heißt es bei den Theatermachern am Eisenmarkt.  So wie die Sache mit der Fahne, die derzeit nicht nur bei Länderspielen geschwenkt wird. In der Pause packen die Theaterbesucher auf den rotlackierten Bänken ihren Proviant aus. Wir nähren uns unter anderem mit Äppelschlot (Kartoffelsalat) und Frikadellen.

 

Em Hännesche es Musik

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird in diesem Theater kölsch geschrieben, gesungen und gespielt (Einzige Ausnahme sind die Sicherheitshinweise, kommentiert mit einem „Das war Hochdeutsch“): Es beginnt damit, dass sich der Kölner Johann Christoph Winters ein Zubrot verdienen will. Als Schneidergeselle kommt er nur schlecht über die Runden und bittet den Bürgermeister um die Genehmigung, „ein Krippenspiel für Kinder anzustellen“.  Daraus entsteht das Puppentheater mit den beiden Charakterdarstellern Tünnes und Schäl.

Alles handgemacht, seit 200 Jahren, auch die Musik. Musikalisch haben die Besucher*innen der letzten Vorstellung dieser Session ganz großes Karnevalsglück. Im Foyer wird zunächst ein langjähriger Mitarbeiter unter herzhaften Gesängen in den Ruhestand verabschiedet, dann taucht plötzlich die Band des Hännesche auf. Schließlich stehen alle im großen Halbkreis um die Musiker, singen und schaukeln selig. Nur für ein Tänzchen haken die andächtig Versammelten die Arme kurz aus der Beuge des Nachbarn oder um „Oh leever Jott, jev uns Wasser, denn janz Kölle hät Doosch“ pantomimisch zu inszenieren. Das ist der Refrain von „Dat Wasser vun Kölle“. Darin befassen sich die Bläck Fööss – sehr interessant für den Fischkopp, der auch manchmal Limnologin ist, also Süßwasser-Wissenschaftlerin – mit der Umwelt. Der Sänger mit der großen Gitarre singt dann auch mit gleicher Inbrunst das Lied von der „steinahl Schull“, wo der Lehrer unverfälschtes Kölsch spricht und der Schüler „off hin unn her üvverlaat“ vor der Antwort: „Dat wesse mir nit mih“. Die Herzen im Theaterfoyer schlagen noch höher, die Stimmen werden noch lauter bei der geschlechterübergreifenden Untreue mit Ansage: „Ich ben ene Räuber“. Passt doch zum Zeit-Titel, der die Monogamie in Zweifel zieht. Im Karneval egal. Bützje, Küsse zwischen Jecken gehören – vorm Corona-Schock jedenfalls  – immer ohne Hintergedanken. Im Hännesche haben manche Kölner und die einzige Nicht-Kölnerin so manche sentimentalen Hintergefühle, als zum Schluss die beiden Stadt-Hymnen ertönen: Ich mööch zo Foß no Kölle gon und Ich möchte zo Foos und In unserem Veedel. Schöner kann sich die Frauengruppe den Karnevals-Samstag nicht vorstellen. Je dreimal Kölle Alaaf, Hännesche Theater Alaaf, Edith Alaaf!

Köln, Veedel Sülz, OZ 23/02/2020, morgens und nachts: Am Karnevalssonntag schreibt der norddeutsche Jeck: „De Schull- und Veedelszöch sind von Sturm und Regen bedroht. Das ist außerhalb von Köln keine Nachricht. Hier bewegt es die Gemüter. Immerhin haben die Kinder monatelang an ihren Kostümen, Wagen, Puppen und anderem gewerkelt.“ Als Hexe und Teufel, Traditionspaar also, machen sich die beiden Karnevals-Aktivistinnen mit Straßenbahn und Car-to-Go auf nach Sülz. Dort findet schon seit Jahren an einem Ort, im Internationalen Caritas-Zentrum, die Wandersitzung statt. Die wandert nämlich nicht mehr. Früher ist dieses charmant chaotische, kolossal kreative Team jedes Jahr an einem anderen Ort aufgetreten, daher der Name. Es ist hier am Sonntag, den 23.2.2020 rappelvoll. Das Plakat vorm ICZ Sülz in der Zülpicher 273b, vier nackte Rücken vor einer Männerstatue mit Augenbinde gibt Rätsel auf, wie manche der Nummern.
Die sind so divers wie das Ensemble, teilweise gehen sie Richtung Comedy, teilweise sind sie total regional. Herr Hänfle macht  als Klimabeauftragter Vorschläge zu CO2-Einsparungen im Karneval: Ein stehender Rosenmontagszug, an dem die Zuschauer vorbeiziehen, Boomerang-Kamelle, Kölsch ohne Kühlung und Kohlensäure; Achnes aus dem Sauerland analysiert den vielbesungenen Stillstand im Kölschen Liedgut: „Du steihs he de janze Zick eröm“, heißt es in „Drink doch eine met“; anderswo stonn se zosamme oder se stonn vor der Kaffebud und schütten sich den Kaffee in den Kopp. Manchmal ziehen (trecken, wie die Kölner*innen singen und sagen) aber auch unvermittelt weiter, beispielsweise, wenn der Sultan Durst hat oder Anna nach Havanna will. Mariandl stellt sich mit dem Sammeln von Plastikflaschen auf steigenden Wasserspiegel ein und träumt: “Ein Schiff wird kommen”. Rosi und ihre Schwester tragen in angemessen ergriffenem Rhythmus ihr „Krätzchen jäjen d´r Brexit“vor. „Herrlich! Herrlich! Herrlich!” finden die Versammelten, wie die beiden bedächtig vom vergeblichen Versuch berichten, Briten mit Fasteloovends-Riten zum Bleiben zu bewegen. Rosiist als Kind begeistert vom 1936 geborenen Komiker und Musiker Hans Süper, der häufig Krätzchen vorträgt und beschließt, Krätzchensängerin zu werden. Krätzchensängerin Rosi spielt wie die anderen Ensemble-Mitglieder auf der Wandersitzung eine Doppelrolle. Sie sitzt auch mit Glitzerzylinder und Satin-Weste als tragendes Mitglied der Chris Kuno Band am Keyboard. Und sie erkennt in der Pause die Verfasserin des Blogs „Sie sind ein Verkehrshindernis – Fischkopp im Karneval“. Sie hatte ihr gerade eine Mail geschrieben: „Liebe Frau Stadie – Leev Vera! Beim Stöbern im Internet bin ich auf Ihren Blog über den Kölner Karneval gestoßen und war völlig überrascht, dass ein „Fischkopp“ die „Wandersitzung“ in Köln kennt – geschweige denn dies in einem Blog erwähnt.Ich habe Ihre 3 Blogs über den Kölschen Karneval seit 1990 gelesen und fand ihn großartig – amüsant- ehrlich – inspirierend – und ich fand mich selbst wieder. Seit 2003 bin ich festes Mitglied im „Ensemble der Wandersitzung” (Keyboarderin der Band und Krätzchen).Ich habe mich sehr über Ihren Bericht gefreut, da Sie die Hintergründe der kölschen (Eigen-)arten erklären und zu verstehen versuchen. Das traditionelle Krätzchen ist mein absolutes Steckenpferd, denn diese Vortragsart fand ich schon immer etwas ganz Besonderes. Deshalb wollte ich diese kölsche Tradition auch wieder in der Wandersitzung aufleben lassen.Wir alle sind vollkommene Laien, karnevalistische Hochstapler, die hauptberuflich stark eingebunden sind und wenig Zeit für professionelle Darbietungen haben. Die Zeit zwischen Dezember und März ist superanstrengend, nervenaufreibend, stressig, etc.,da wir alle zweigleisig fahren müssen.Umso mehr freue ich mich, dass es tatsächlich Leute gibt, die diese Sitzung schätzen und anscheinend auch immer wieder kommen. Vielen Dank für Ihren tollen Bericht. Er hat mich sehr motiviert“. Es hat sie ermuntert, das wiederum ermuntert die Schreiberin auf. Sie steht aufs Zesommestonn, findet, die Höhner haben Recht: „Zesammesin, zesammeston, …. Zesammehalde jitt die Kraf´, ohne die et keiner schaff.“ Zusammenstehen, Ehren- und Hauptamtliche, Klein- und Großkünstler! De Fischkopp beschließt, sich noch heftiger als Bloggerin zu betätigen: „Macht Sinn. Vielleicht nicht nur für mich.“ Edith steht vor allem auf die„Chris Kun O Schwer Big Band“ und Xenias seelenvollem Gesang hier, die machen zusammen aufregende Musik. Davon lassen sich das Bärbel, das Edith und das Vera – sie haben ja glücklicherwesie schon viel getanzt in ihren Leben – rütteln und rocken, genau jetzt.

 

Herren mit Hutschachteln

Köln, Veedel Altstadt, OZ 24/02/2020, gegen Mittag: Am Rosenmontag tun der Fischkopp und der Teufel mehr als 20.000 Schritte. Der Dreizack, das Führungsinstrument, kommt abhanden und Freude kommt auf in diesen „zwölf Stunden in einem gewissen Space“, wie die Kölnerin versucht, Außerkölnischen telefonisch zu erklären, was nicht zu begreifen ist, wenn man nur den Live-Stream oder den O-Ton als Sinnenfutter hat. Das Edith hat einen Plan für den Flow. Ja, das geht:) Sie hat den Zugweg aus dem Stadtanzeiger gerissen und kennt das „Hätz von der Welt“, Kölle nämlich. „D´r Zoch kütt!“ An der Glockengasse steigen die beiden ins Spektakel ein. Vera sammelt die Wappen der verschiedenen Karnevalsvereine, sie umhüllen das Wurfmaterial. „Et hät noch immer jot jejange“, lautet § 3 des kölschen Grundgesetzes. Unter diesem Motto drängen sich auf einem Wagen ein paar Tierchen zusammen, verfolgt von Gespenstern der Klimakrise, der Rezession und anderen bösen Geistern. Se han et ärm tier, wie die Kölner bei Bedrängnis und Betrübnis sagen. Harbeck von den Grünen surft strahlend auf der Welle von Prophetin Greta, und der Fischkopp – hat sich schon in der Jugend dem Naturerhalt verschrieben; die Grünen in Gestalt eines Hamburgischen Bündnisses aus Umweltinitiativen namens GAL (Grün-alternative-Liste) quasi nebenbei mitgegründet – hofft, dass diese mittlerweile fest auf den Brettern der Marktwirtschaft verankerte Partei mal wieder Wellen schlägt. In langen Kolonnen ziehen die Karnevalsvereine vorbei, militärisch aufgeteilt in Fußvolk, Berittene, Sanitäts- und Reservetruppe. Manche veralbern weiterhin die alten Preußen, andere auch die heutige Kriegstreiberei. Nachdem der Zug sich am frühen Abend aufgelöst hat, enthüllt der Blick in ein Lokal, in dem die uniformierten Herren sich umziehen: Sie haben Hutschachteln! Davon später. Beim Durchmarsch der Roten Funken, als der hohe Wagen zwischen den Fußtruppen vorüberrollt murmelt die Teufelin: „Alte weiße Männer“. Ihr Karnevals-Trainee aus dem Norden entdeckt derweil sogar bei den Roten Funken einen jungen Mann anderer Hautfarbe und der Damenverein „Colombina Colonia“, einer der ersten seiner Art, zieht selbsbewusst lächelnd vorbei. Des Fischkoppes ganze Hingabe gilt den Spielmannszügen, sie ruft ihnen Durchhalteparolen. Die dicke „Trumm, Trumm, Trumm“ geht aufrüttelnd durch Mark und Bein (plötzlich fällt einer mitten im Frohsinn ein, dass ja so auch die Soldaten in den Krieg getrommelt wurden): „Denn wenn et Trömmelche jeit, dann stonn mer all parat un mer trecke durch die Stadt …“. Ja das Herumziehen! Und wen die beiden man im Jewöhl der Tausenden trifft! Xenia, die fabelhafte Sängerin der Chris-Kun-O-Band und auch ein Mitglied aus Ediths Puppensitzungs-Ticket-Team. Sie  – und ganz viele andere Jecken – pausieren im Merzenich am Neumarkt, mit Mutzen, Schecken und Blicken ins knallbunte Jewöhl. „Kölle, do bes e Jeföhl!“ Das verstehen sogar Hochdeutsche. Bei Hätz un Siel hingegen kommt ihnen vielleicht brauen Hetze und dreckiges Wasser in den Sinn. Weit gefehlt, es bedeutet: Herz und Seele. Unterbrochen wird das Treiben durch einen Großeinsatz der Feuerwehr. Am Barbarossaplatz ist eine junge Frau unter die Straßenbahn geraten. Im Hessischen ist ein junger Mann mit dem Auto in eine Karnevalsgruppe hineingefahren. Nicht zu fassen. Der Präsident des Festkommitees Kölner Karneval (FK), Christoph Kuckelkorn beschreibt in seinem gerade erschienenen Buch „Der Tod ist dein letzter großer Termin“, wie zerbrechlich unser Dasein ist und wie wir mit diesem Wissen ein gutes Leben führen können. Als Beerdigungsunternehmer und Eventmanager sieht Kuckelkorn, dass Karneval und Bestattung vieles gemeinsam haben: „Sie sind beide unabwendbar (zumindest in Köln), immer geht es um große Gefühle, es kommen viele Menschen zusammen. Und am Ende fallen alle Masken.“ Bei beiden Tätigkeiten komme es auf gute Vorbereitung, schlüssige Dramaturgie und perfektes Timing an. Und dann räumt der Bestatter ein wenig auf im Kölner Karneval: Es gehe nicht um eine große sinnfreie Party. Viele Rituale hätten einen tieferen Bezug, sie würden Leben und Tod zusammenbringen. „Der Karneval spiegelt nämlich jedes Jahr eine Geburt und einen Tod wider.“ Am Ende jeder Session werde der Nubbel, also die traditionelle Strohpuppe des rheinischen Karnevals, als Sündenbock verbrannt. „Er steht wieder auf und hängt im nächsten Jahr wieder über den Straßen der Stadt.“ Auch die Lieder, die im Karneval gesungen würden, seinen keinesfalls nur ausgelassene Spaßmusik. Da spricht Kuckelkorn dem nicht immer sturen Hamburger Fischkopp ja so aus der Seele, wenn er übers kölsche Liedgut schreibt, manchmal verleite es „einen tatsächlich dazu, auf den Tischen zu tanzen, aber manchmal auch, zu Tränen gerührt zu sein.“ Wenn man sich dem Karneval öffnet und ihn mitfeiert, wie er kommt, da sind sich die beiden über Regionalgrenzen hinweg einig, „ist immer alles ganz nah beieinander“ in diesem singenden Spannungsfeld zwischen Leben und Tod. Auf ungefähr diese Weise vergessen auch Edith und Vera, die beiden Jecken aus verschiedenen Ecken, weder Anteilnahme noch Mitgefühl und genießen dennoch den Zug in vollen Zügen. Als sie in Fahrrichtung kurz hinter dem Gassen-überspannenden Banner „Werfen einstellen“ in der Mohrenstraße stehen, erscheint das den beiden Kamelle-Sammlern – sie haben unterschiedliche Interessen: Edith will Schokolade, Vera will die Wappen für ihre Karnevals-Collage – nicht die richtige Position. Die Führungskraft ohne Dreispitz empfiehlt (befiehlt☺) prinzipiell die zweite oder dritte Reihe  unter den Zuschauern rechterhand des Zuges. Ein wenig gassenaufwärts fängt eine am späten Rosenmontag noch eine Menge Wurfmaterial. 

 

Herrlich Lache im Jesicht

Der Mann mit dem Megafon gibt aus dem ersten Stock die von ihm durchnummerierten Löcher im Zug bekannt: „Dat Loch es uns!“. Und die Jecken stürzen sich auf die Straße, wirbeln umeinander herum: Raumnahme. Was für eine Befreiung, so eine autofreie Stadt! Die Familie in der ersten Reihe hat in einer Riesenreisetasche schon kiloweise Kamelle erbeutet. Sie alle, auch der offensichtlich todkranke Großvater, tragen brauen Teddy-Overalls und sind einander still und zärtlich zugetan. Ja. Mitten im Jewöhl und Jegröhl ist Platz für jede Menge Jeföhl: „Un dann dät et lache, so wie ne Sunneschin“ heißt es in Fischkopps Lieblingslied „Min etzte Fründin“. Auch Wiever, die manchmal Rotz un Wasser kriechen (heulen), wie es in einer anderen Ode an Colonia heißt, han hier e herrlich Lache im Jesicht.Die Bläck Fööss haben im 50. Jahr ihres Bestehens den Zug eröffnet. Die schönen Pferde – besonders eindrucksvoll treten die kräftigen Kaltblüter auf, die die Kutschen ziehen – dürfen doch mitgehen, sind allerdings schon teilweise durch nicht-scheuende Neuzugänge auf Rädern ersetzt. Man hat ja Fantasie. Die Kompetenz und Erfahrung der Kölner Wagenbauer und ihre Fantasie hat sie in letzter Stunde einen Rosenmontagswagen mit einem weinenden Dom erschaffen lassen: „Unser Hätz schlät für Hanau“. Der Kölner Stadtanzeiger veröffentlicht ein ganzseitiges Foto. Ganz zum Schluss wartet alles ehrfürchtig und freudig auf de Prinz. He kütt angerollt in der Abenddämmerung effektvoll erleuchtet, mit seinen langen Pfauenfedern. Wir winken, hüpfen, singen, mit und ohne Ansage, ohne Ansehen von Figur oder Frisur – und wenn doch ansehen, dann immer wohlwollend – marktgängiger Schönheit, Alter, Klasse. Dem Fischkopp fallen neue Paragraphen zum Kölschen Grundgesetz ein: § 12: Du sollst auf niemanden herabsehen – außer du stehst oben auf dem Wagen und wirfst ihm oder ihr Kamelle oder ein Lächeln zu; § 13: Du sollst nicht ausgrenzen, es sei denn du reihst dich gesittet plaudernd hinter dem Drängelgitter in die Schlange vorm Brauhaus ein. Die beiden beseelten Wiever schlendern in aller Anhänglichkeit dem sich auflösenden Zoch hinterher und bekommen vor Ediths Lieblingskirche St. Gerion noch einen herrlichen Anblick hinterhergeworfen: Das Dreigestirn auf seinen dort abgestellten Wagen. Das Volk versammelt sich friedlich und fröhlich zu Füßen und selbst die Anti-Imperialistin aus dem Norden ist gerührt: „Love is in the air“ oder so

 

Jenau jetz´!

Dank einer jut jelungen Mischung aus teuflischer Logik und Fischkopp-Fantasie landen die beiden jenau richtig: im Päffgen an der Friesenstraße. Eine Närrin in bekleckertem Malerkittel hilft Vera durch ein Fenster zwischen zwei der ehrwürdigen Gasträume auf die Bank, wo diese auf der Stelle zu tanzen und zu singen anfängt: „Mer lääve dä Augenbleck … un dä es jenau jetz´!“

Edith trifft in einem magischen Moment auf einen eingereisten Anfangsechziger und widmet sich jenau jetz´ dem intensiven nonverbalen Austausch. Dabei zieht sie den roten Teufelsumhang vor. „Wir haben nach keinem zu fragen“ und knutschen ist … Um sie herum brüllen, wie es im Inklusions-Song „So sin me all herhen jekomme“ heißt, hück (heute) all dieselbe Sproch. Bis auf einen. Der kommt aus Ohio und hockt, das Haupt mit dem Piratentuch gesenkt, auf der Bank. Das wird sich ändern! Daran wirken unter anderem das herrlich schöne Männerpaar in den türkis-goldenen 4711-Uniformen und das Rhein-Elbe-Duo der zwei erfahrenen Energiearbeiterinnen mit. Das Ende schon mal vorweg: Sein „Mädche“ aus Ohio und er beschließen in der verschwitzten Schunkelumklammerung dieser unwiderstehlichen Päffgen-Clique, den Skandalen um „Trumpel“ (so tituliert nach der Melodie „Skandal um Rosie“ vom Schleppschicht-Duo aus dem Ruhrgebiet, das jedes Jahr auf der Wandersitzung auftritt) zu entwischen und sich unter echten Jecken (siehe oben) am Rhein niederzulassen. Eine der beiden US-Amerikanerinnen beherrscht schon hochdeutsch. Der 4711-Guide (4711 ist übrigens eine Hausnummer aus Kölns Franzosenzeit, Napoleons Leute haben de Hüscher durchnummeriert, der Parfümier hat es dabei belassen, logo) ruft ihr nun die Vokabeln der nächsten Fremdsprache ins Ohr, zum Lied „Das kölsche Wort für Verhältnis ist Fisternöllchen usw.“ Reine Fastelovend-Magie. Fastelovend zesamme! Fisternöll? „Ene Fisternöll es jet, wat keiner metkrije soll. Wann jet stell un heimlich zwesche enem Kääl un enem Frauminsch läuf, dann han die zwei e Fisternöllche. Un weil mer jo tolerant sen, jo, dat kammer och bei lesbische un schwule Lück sare“, schreibt Peter Honnen. Tatsächlich gilt hier ganz offensichtlich: „Mer sin multikulinarisch – mer sin multikulturess; Mer sin in jeder Hinsicht aktuell – auch sexuell!“ Honnen hilft uns auf der kölschen Wikipedia (ksh.wikipedia.org) auf Hochdeutsch weiter: „Das Wort kommt von “fistan” (Mittelhochdeutsch): sich beschäftigen, herumbasteln. Und esu is in Düsseldorf (!) och en Fisternöll einer, dä im Keller irjendwat erömbastelt.“ 

 

 Fastelovend zesamme!

Und die Hanseatin staunt über die Dialekt-Wiki: Im Gegensatz zu anderen Dialekten war die original Kölner Mundart im deutschen Sprachraum zu keiner Zeit vom Aussterben bedroht. Zwar wurde sie zur Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sprache der Arbeiter abgestempelt, und die bekannten sich dann, um diesem Vorurteil entgegenzutreten, nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr zum Kölschen. Das wurdedann eher vom Bürgertum gesprochen, das sich nach dem Krieg ein Gefühl von Heimat vermitteln wollte.In den 1970ern wird die kölsche Mundart dann wieder als Sprache der Arbeiter und Kriminellen verpönt, was dazu führt, dass in vielen Familien kein Kölsch mehr gesprochen wird. Bei Edith schon. Ihre Mundart erholt sich in ihrer Jugend durch Bands und Musikgruppen wie die Bläck Föössvon allen Vorurteilen, etabliert sich als Stadtdialekt. „Tiefes Kölsch“, also der unverfälschte Dialekt, wird heute nur noch von relativ wenigen, zumeist älteren Kölnerngesprochen, die ihren Wortschatz noch ohne Einfluss moderner Kommunikationsmedien bilden konnten- und den fabelhaften Künstler*innen des Hännesche Theaters.
Fastelovend zesamme! Dieser Gruß gilt nur im Karneval, während der fünften Jahreszeit, der Zeit vorm vierzigtägigem Fasten, die nach altem Brauch am Aschermittwoch beginnt und der Vorbereitung auf das Osterfest dient. Sehr intensiv bereitet man sich im Päffgen auf diesen Übergang vor. Zesamme. Nochmal apropos zesamme: Der Kölner Stadtanzeiger schreibt am Dienstag, den 25. Februar: „Zesamme fiere, zusammen feiern, auch in Zeiten, in denen das nicht immer leichtfällt – das ist etwas, was die Kölner auszeichnet und Köln so besonders macht. Nach den Morden eines offenbar rassistisch motivierten Rechtsradikalen in Hanau war es ein starkes Zeichen, das der Karneval an diesem Rosenmontag aussandte: mit einem eindrucksvollen Rosenmontagszug, der so politisch daherkam wie lange nicht und klar Stellung bezog gegen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und politischen Populismus“. Kurzfristig ist ein Wagen mit weinendem Dom entstanden: „Uns Hätz schleiht für Hanau“. Im Stadtanzeiger heißt es weiter: „Es waren viele glückliche Gesichter zu sehen in der Stadt, aus allen Generationen. Der Fischkopp gehört im Päffgen zu den Ältesten – und ist Wassertrinker. Im Zeichen des Zusammestonns kriegt der Hamburger Jeck im Päffgen nicht nur vom superfürsorglichen Köbes (so und nie anders heißen die Kellner in den Kölner Brauhäusern und sie können auch Seelsorge) superjeiles Sauerkraut, Pürree und Kassler serviert, sondern ständig von „Fremden“ Kölsch unter die Nase gehalten. Und der Fischkopp ist unführbar beim Tanzen. Das hält weder den Käptn, noch den Pumuckel ab, sie reißen de Hamburger Jeck an sich, schleudern sie nach Polka- oder Walzerart über die Dielen. Der Fischkopp versucht, nicht zu heftig zuzutreten und sich zu ergeben. Auch wenn die Liedcher sich wiederholen, jenau jetzt am späten Rosenmontag in der Obergärigen Hausbrauerei Gebr. Päffgen (seit 1883), Köln, Friesenstr. 64/66 nimmt das Glück seinen Lauf.

 

Ratsch am Kappes?

Köln, Veedel Lindenthal, OZ 25/02/2020, sehr später Vormittag: Dieser letzte der fünf tollen Tage wird auch Fastnachtsdienstag, Faschingsdienstag, Karnevalsdienstag, Fasnets-Zeisdig oder Fasnachtsdienstag genannt. International heißt er Mardi Gras („fetter Dienstag“), „Shrove“ oder „Pancake (Tues)day“, im kölschen Brauchtum hat er eine besondere Bedeutung hat und stellt den Höhepunkt der Feiertage dar. In Sachen Höhepunkt nochmal ein wenig Nachhilfe mit “Wikipedia op Ripoarisch Platt”: Dort heißt es, dass du nur, wenn du einen möglicherweise katholisch bedingten „Ratsch am Kappes“ (Knall) hast, sagst, „ et jrößte“ sei der Aschermittwoch. „Dat stemp äwwer net“, schreiben die kundigen Fastelovendßjecke. Die beiden älteren Fastelovendßjecke erholen sich, Edith walkt um den Weiher, sie sichten würdigen beglückt Bilder und Kamelle ihres dreißigsten Karnevalsjahrsjahres; ersparen sich die nächtliche Nubbelverbrennung (damit wird hier in der Nacht zum Aschermittwoch der Karneval symbolisch beerdigt; siehe „Sie sind ein Verkehrshindernis – Fischkopp im Karneval (Teil 3)) und, auch wenn nach dem nur noch für diesen Tag geltenden Karnevalsmotto 2020 dat Hätz em Veedel schlägt und Ediths Wahl-Familie dort lebt, den Veedelszoch in Dellbrück. Das mit den Schull- und Veedelszöch entwirrt die Logistikerin: Am Sonntag vor Rosenmontag sind in diesem Jahr die Schull- und Veedelszöch wegen zuviel Wind ausgefallen. Das sind die Abgesandten der Stadtviertel, die durch die Innenstadt ziehen, wenn die Klimakrise es erlaubt. Die Veedelszöch in den einzelnen Stadtvierteln finden am Veilchendienstag statt. „Ausgerechnet am Veilchendienstag“, heißt es in  traurigen Nachrufen auf Marie-Luise Nikuta. Am 25. Februar 2020 ist sie gestorben, in ihrer Heimatstadt, wo der Tag nach dem Rosenmontag, Zu denen gehörte jahrzehntelang unverzichtbar „die Nikuta“. Mit 13 Jahren hat sie mit ihren ersten Hit mit „Mer fiere Fastelovend“. Dieser kölsche Fastelovend „ou Fasteleer of Karneval“ sei, so das Kölsch-Wiki „et Pläsiersche vun jedem dä nit doof eßß“. Und Nikuta ist jahrzehntelang fester Bestandteil dieses Vergnügens, schreibt und komponiert über 160 Karnevalslieder. Ein paar davon bekommt ziemlich genau 30 Jahre zuvor ahnungslos der sture Noch-nicht-Jeck live auf dem Alter Markt zu hören, minimal als Matrose verkleidet, jedes Schunkeln verweigernd, stocksteif (siehe Blog „Sie sind ein Verkehrshindernis – Karneval für den Fischkopf“). Als erster vernimmt der Beerdigungsunternehmer und Festkommitee-Chef Kuckelkorn die traurige Nachricht und sagt, die verstorbene Mundarttexterin und -sängerin habe den Karneval weiblicher gemacht, in einer Zeit, als das noch nicht selbstverständlich war. „Sie hat die Bühnen der Stadt gegen manch damalige männliche Widerstände erobert und wird für immer in den Herzen der Kölschen sein.“ Nikuta hat sich auch beim Kölner Christopher Street Day engagiert. Das Bild zeigt sie auf dem Straßenfest zur Cologne Pride 2006.

 

Am Aschermittwoch ist alles vorbei

Köln, Veedel Lindenthal, OZ 26/02/2020, sehr später Vormittag: „Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Die Schwüre von Treue sie brechen entzwei; von all deinen Küssen darf ich nichts mehr wissen. Wie schön es auch sei; dann ist alles vorbei.“  Es sei denn, man nutzt doch den Spezialservice der Kölner Stadtrevue: 

Aschermittwoch 2020 schneit es. Und die Ticket-Teams für den 19. September stehen, denn ejmol em Johr treffen sich die Jecke op dem Isemaat! Und der hanseatische Jeck freut sich schon riesig aufs Puppentheater im nächsten Jahr. Beim Rumtreiben auf der Dürener Straße hat er im kleinen Buchladen diese ins Jenseits und zurück weisende Neuerscheinung gefunden, in der ein Bestatter vom Leben erzählt; und an der Tür von „Haus Schwan“ die Ankündigung: Aschermittwoch-Fischessen. Das Gasthaus funktioniert seit mehr als 20 Jahren als gute Stube Lindenthals, bietet „unkomplizierte, kölsche Gastlichheit“, „ehrliche, gutbürgerliche Küche“ und „echtes Veedels-Feeling“. Edith und Vera nehmen das Angebot an, auch wenn Edith in Sachen Fischessen eine katholische Altlast trägt: Den heiligen Blasius. Dieser Heilige ist zuständig für den Halsbereich. Man braucht seinen durch zwei überkreuzte Kerzen (stellen die etwa Luft- und Speiseröhre dar? fragt sich die unchristliche Biologin) gesprochenen Segen, lernt das kleine Edithche, damit man sich nicht an einer Fischgräte verschluckt. Sie speichert als schlaues Kind eine Kurzfassung ab: „Fischessen – Gräte – Sterben“ – und schreitet Aschermittwoch schreiten die beiden Beglückten zum traditionellen Fischessen im Haus Schwan. Edith stellt sicher, dass sie ein grätenfreies Filet bekommt, der Fischkopp kriegt seinen Sonderwunsch erfüllt: zum Dorsch mit Senfsauce gibt es für sie Rievkooche! Die Bläck Fööss rufen: „Mamm, Mamm, schnapp d’r de Pann, mir woulle Rievkooche hann“ und das ksh-wiki verzällt: “Rievkooche sen e traditionell Esse. Se bstonn vür allem uss jeschällte, jeriwene Ääpel (Kartoffeln), die met Eije, Mäll, Ölisch, Salz, Pfeffer und Muskat zo_nem Rievkoochedeijsch vermengk, un en_ner_ner Pann met heeßem Ööl ussjebacke weede. E bißje Klatschkies (Quark) em Deijsch dräät dozo beij, dat die Rievkooche net ze schwer em Maare lieë. Miestens weede Rievkooche met Appelputsch (Apfelmus) jejässe, em Rhingland äwer och op_en traditionelle Aat: Op_e_ner Schief Schwazbruut met Röbekruck (Zuckerrübensirup)“. So geschieht es normalerweise im Schwan. Diese Zubereitung erläutert das ksh-wiki: „Dat kütt doher, weil die Rööpe em Vüürjebirsch (Vorgebirge) un em Berjische (Bergischen Land) ävve och hingerem Sibbejebirje un sonzwo präschtisch jedeihe. Rievkooche ka_me em Rheinland fass an jedem Imbiss-Büdsche koufe“. Aber im Schwan sensationell knusprig und saftig.

IC 2408 Köln – Hamburg-Altona, OZ 27/02/2020, 12:12: Uhr: Mer fahre übern Rhing un losse de Dom in Kölle.