01 Mrz

Heidnische Tobung & Öffentliche Unordnung

Nu is alles vorbei. Die Träume sind entzwei. Von all ihren Küssen woll´n sie nichts mehr wissen. Auch das Köln-Bashing an norddeutschen Stammtischen ist verstummt. Man (genau: man) hatte sich hier zuvor laut pöbelnd über ekelerregende Ekstasen und Exzesse geeinigt – weitgehend kenntnisfrei. Denn wer versteht in Hamburg schon etwas von Fastnacht? In meinem überregionalen Taschenkalender ist dafür nur der Karnevalsdienstag vermerkt. Das mittelhochdeutsche Ursprungswort Vastnaht verweist auf den Abend vor der 40-tägigen Fastenzeit, in Köln sagen sie Fasteloovend oder Fasteleer und dehnen das diesbezügliche Brauchtum auf eine Woche aus. 

Kölner Experten wie die mundartlich singenden Männer der 1970 gegründeten Band Bläck Fööss betonen: „Mer bruche keiner – keiner dä uns sät wie mer fasteloovend fiere deit – mer mache et sick 2000 Johr“ = Sie bräuchten keinen, der ihnen sagt, wie man Vastnaht alias Fastnacht, Fasteleer, Fasteloovend feiere, denn die Kölner hätten damit 2000 Jahre Erfahrung. Damit beziehen sich die Herren wohl auf ihre römischen Vorfahren, die sie auch im vielzitierten „Unsere Stammbaum“ erwähnen: „Ich wor ne stolze Römer, kom met Caesar‘s Legion“.

Musiker der Bläck Fööss bei der Buchvorstellung „Die große Stadtgeschichte“

Die aus dem Imperium Romanum an den Rhenus marschierten Ureinwohner*innen von „Aggrippina of Coellen“ alias CCAA (Colonia Claudia Ara Agrippinensum) alias Kölle feierten im Februar vor allem Faunus (eingedeutscht Faun, bei den Griech*innen Pan), den Beschützer der Bauern und Hirten, ihres Viehs und ihrer Äcker.

Peter Paul Rubens: Faun und Mädchen

Ihre Reinigungs- und Fruchtbarkeitsfeste im Vorfrühling wurde dies februatus genannt. Oder lupercalia (Luperkalien), denn sie standen auch im Zeichen der Wolfsabwehr (Canis lupus war für damalige Hirten eine wirkliche Bedrohung und Faunus sollte das Zusammenleben von Mensch und Tier regeln – Abwehr heißt ja nicht unbedingt Abschießen…). Vielleicht waren die alten Römer*innen sich auch der Folgen ihrer Entnahme aus Flora und Fauna, ihres Erntens und Schlachtens in Fauns Reich, bewusster als viele Nachfahren. Ihr Sühne- und Reinigungsfest, Opferriten im Vorfrühling, dies februatus genannt (wobei februa ein aus Ziegenfell geschnittener Riemen war, der auch die menschliche Fruchtbarkeit erhöhen soll, bei leichten Schlägen – siehe unten: Pritsche), waren quasi ein Versöhnungsangebot an Faunus. Sie sollten zur Beseitigung oder Übertragung menschlicher Schuld dienen – wie die Rituale, die auch dieses Jahr wieder am 21. Februar in Köln praktiziert wurden, mehr davon später.

Reinigungsritual „off dem Eigelstein“, einer schon in der römischen Epoche nachgewiesenen Straße, im Februar 2018, Foto: Vera Stadie

Das offizielle Köln (http://https.karneval.köln) feiert 2023 nicht 2000 sondern laut diesjährigen queeren Leitsprüchen „200 Jahre Kölner Karneval – ov krüzz oder quer“ bzw. „200 Jahre zesamme jeck!“. Das rheinländisch umgangssprachliche Eigenschaftswort jeck bedeutet verrückt und/oder närrisch, das zugehörige Hauptwort der/die Jeck*in meint entweder jemanden, der/die geistig verwirrt ist, oder jemanden, der/die Karneval feiert. Beziehungsweise Carneval, so taucht der Begriff, vermutlich abgeleitet vom lateinischen carne levare = Fleisch wegnehmen, 1780 in den Kölner Stadtakten auf. Mit K ist dieses kollektive Feiern  ¼ Jahrtausend später Indikator für an die 500 Millionen Umsatz in der Stadt am Rhing (Rhein). Und es sei zudem „das Lebensgefühl einer ganzen Region und seit 1823 fester Bestandteil der kölschen Identität“, steht auf Karneval.Köln. Mir ist Karneval ein erfrischender Wellnessurlaub, in der fünften Jahreszeit wird’s Zeit, Altes und Verkrustetes, Stagnation und Blockaden wegzufegen, Kälte, Dunkelheit und böse Gedanken zu vertreiben, innere Energien zu entfachen und mich mit dem Leben, das jetzt in der Natur erwacht, zu verbinden.

Jeckin aus Kölle alias Blondie und Jeck aus Hamburg alias Fischkopp

Die Kölner Karnevalswoche beginnt hochoffiziell am Karnevalsdonnerstag um 11:11 Uhr auf dem Alter Markt, an einem  bedeutsamen Ort schon in der Römerzeit, als sich dort der Hafen befand. Später wurde die Premiumfläche in der Altstadt Wohn- und Amtssitz der Kölner Führungsschicht, die auch heute noch im Karneval eine leitende Rolle spielt. So übergibt die Oberbürgermeisterin an Wieverfastelovend (Weiberfastnacht = Karnevalsdonnerstag) die Schlüssel der Stadt ans Prinz, Bauer und Jungfrau, dargestellt von betuchten und gut verklüngelten (pardon, vernetzten) Herren. „Eimol Prinz zo sin en Kölle am Rhing“, wie Mundartsänger Wicky Junggeburth 1983 textete, als er Prinz Karneval darstellte, kostet eine Stange Geld und erfordert gute Beziehungen, ist mörderisch anstrengend, macht aber scheinbar auch Riesenspaß, auch den Umstehenden. Nicht billig sind auch seiner Tollität des Prinzen Herrschaftsinsignien, Zepter und Pritsche. Die Pritsche, ein Scherz-, Schlag- und Züchtigungsinstrument mit mindestens 500-jähriger Geschichte, soll auf Fruchtbarkeitsrituale zurückgehen, vielleicht auf alte weiße Männer im römischen Reich, die an Feiertagen Frauen mit den Fellen eines geopferten Bocks geschlagen haben sollen, um deren Fruchtbarkeit zu erhöhen. Bei den Helligen Knäächten un Mägden (Hochdeutsch: Heilige Knechte und Mägde), einer Tanzgruppe, die seit dem 13. Jahrhundert besteht und damit Kölns älteste ist, gibt es bis heute einen Pritschenmeister. Er ordnet und regelt seit 800 Jahren die Auf- und Abtritte in Kölns ältester Traditionstanzgruppe und darf dabei nicht zuschlagen – anders als andere Ordnungshüter*innen.

Hellige Magd, Kölner Rosenmontagszug 2013

Es gibt also Pritschen aus Holz, Pappe und Fell. Und aus Silber. Aus dem Jahre 2015 ist im Kölner Handwerksblatt übermittelt, dass jene Pritsche, die in jenem Jahr die Macht des Kölner Prinzen symbolisierte, in die seit 1995 alle Namen der jährlich wechselnden Tollitäten graviert worden waren, sozusagen voll war und der Große Senat des Kölner Karnevals für den Entwurf einer neuen silbernen Insignie € 11.111 zur Verfügung stellte. Ein verlockendes Angebot an alle Gold- und Silberschmiedinnen und -schmieden, die in der Handwerksrolle der Handwerkskammer zu Köln eingetragen sind. Auf die Pritsche fürs  21. Jahrhundert passen 20 Prinzennamen. Sie ist zum Zuschlagen nicht geeignet.

Kasper mit Pritsche, Lothar Meggendorfer

Tänzerin der “Hellige Knäächte un Mägde”

Im Kölner Dreigestirn stellt seine Tollität der Prinz den allerhöchsten Karnevals-Repräsentanten dar. De Buur (Bauer) verkörpert die Wehrhaftigkeit dieser Stadt, speziell bei der Befreiung von machtergreifenden Erzbischöfen und die Jungfrau, bis auf die Jahre 1938 und 1939, wo die NSDAP karnevalistisch gar nicht korrekt auf ein Weib bestand, von einem Mann gespielt, steht sozusagen für Mutter Colonias männliche Seite, all ihre Macht und Uneinnehmlichkeit. 

Wicky Junggeburth bei einem Auftritt im Karneval 2014, Von Oliver Abels (SBT) 

Der Kölner Karneval insgesamt steht eigentlich und ursprünglich  für Auflehnung und zwar sowohl gegen Militär als auch gegen Klerus. Insofern ist er extrem zeitgemäß und verweist zudem auf die Geschichte von Deutschlands ältester Stadt. Dazu befragen wir noch einmal die von mir hemmungslos verehrten Bläck Föös. Sie verstehen viel von Geschichte und Politik. So mobilisierten sie vor 30 Jahren unter dem Motto „Arsch huh Zäng ussenander“ = „Arsch hoch und Zähne auseinander“ musikalisch gegen Rassismus und Neonazis. Diese Kölner Kampagne mündete gut 20 Jahre später, als der brutale Spuk in Deutschland noch immer nicht vorbei war – im Gegenteil, in die Kundgebung Birlikte (das türkische Wort birlikte bedeutet zusammen, gemeinsam). Die fand erstmals 2014 in Köln statt, unter lautstarker und leiser Beteiligung der Bläck Fööss. Sie traten auch, verjüngt durch eine neue Generation von Mundart-Künstlern, am 24. Februar beim Open Air Benefiz-Konzert für Frieden, Freiheit und Menschenrechte auf und erläutern das Wachstum kölschen Stammbaumes nach der Römerzeit folgendermaßen: „Un ich ben ne Franzus, ich kom mem Napoleon. Ich ben Buur, Schreiner, Fescher, Bettler un Edelmann, Sänger un Gaukler, su fing alles aan.“ Der Refrain, übersetzt: „So sind wir alle hierhergekommen, wir sprechen heute alle dieselbe Sprache. Wir haben dadurch so viel gewonnen. Wir sind wie wir sind, wir Jecken am Rhein. Das ist das, worauf wir stolz sind“, hängt der Geschichtslektion übers römische, fränkische, freie und französische Köln einen über all die Jahre im Straßenkarneval und in den Sälen gerne geschmetterten Appell an.

Dreigestirn am Gürzenich, der im 15. Jahrhundert erstmals errichteten Festhalle, Skulptur: Anton Fuchs und Heike Haupt

Birlikte-Kundgebung, Ernst „Erry“ Josef Stoklosa (Bläck Fööss) und Peter Brings, Foto: Raimond Spekking

Appell? Da sind wir doch schon fast im preußischen Köln. Die preußische Fremdherrschaft schloss sich Anfang des 19. Jahrhunderts direkt an die französische an. Letzterer verdanken wir auf jeden Fall die Hausnummer 4711, vielleicht auch den nicht geschützten in Köln kreierten Namen Eau de Cologne. Sie war vielleicht weniger unbeliebt bei den Kölner*innen.

Das preußische Militär wird jedenfalls von Jahr zu Jahr wieder verarscht. Ja verarscht, nämlich unter anderem mittels Stippeföttche. Das ist ein ritueller Männertanz, bei dem die Herren in persiflierten preußischen Uniformen sich ihre Hinterteile (Föttche) entgegenstrecken und diese aneinander reiben. Die lebhafte Bewegung heißt auf Kölsch Wibbeln. Und so setzt man sich seit 200 Jahren mit dem Kriegsdienst auseinander, zeigt denen, die genau hinschauen, dass einem Soldatentum und Militarismus generell am Föttche vorbei gehen.

Notgeldschein der Stadt Köln von 1922, der zwei Mitglieder der Roten Funken beim Stippeföttche darstellt

Aus Gründen – die auch auf der diesjährigen Stunksitzung, jener 1983 von einem Student*innen-Kollektiv in den Fasteloovend gerufenen Alternative zu alteingesessenen Prunksitzungen auf die Schippe genommen wurden – wurde ich von der AG DB nicht so nach Köln transportiert, dass ich dort um 11:11 als Hamburger Jeckin meinen Beitrag zur Eröffnung des Straßenkarnevals leisten konnte. Obwohl ich pünktlich nicht lange nach 6 Uhr morgens mit meinem karierten Koffer voller Karnevalsutensilien in meinem Hamburg-Altona eingestiegen war, in vollem Wiever(Weiber)-Ornat als mit diversen Amuletten behängte, vom Leben zerzauste Hagazussa.

Grafik: Kevin Külsen

Dafür waren schon Anreise und Ankunft ziemlich schräg: Während ich mir im Zug mein mitgebrachtes Sauerteigbrot mit Senf, Endivien und Käse belege, erzählen sich neben mir Koch und Köchin (echt, nicht kostümiert) über künstliche „Lebensmittel“, eklige Ersatzpulver, die sie widerwillig den Bewohner*innen im Altenheim anrühren müssen. 

Mondsichel über der Hamburger Binnenalster. Bahnfahren bildet  – eine muss bloß die digitalen Geräte runterfahren und die Lautsprecherdurchsagen überhören. Die junge Frau gegenüber klappt ihren Laptop auf, auf dem steht „Homophobie ist voll schwul“. Finde ich auch, würde es nur anders ausdrücken, etwa im Sinne des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Dessen Ziel ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Aber halt! Rasse? Das geht ja gar nicht. Da bin ich Biologin! Und verweise auf eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern, die 2019 in der Jenaer Erklärung verkündeten, das Konzept der Menschenrassen sei „Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ sei. „Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Augen- oder Schädelform“, heißt es in dieser Erklärung, habe zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. „“Auch heute noch wird der Begriff Rasse im Zusammenhang mit menschlichen Gruppen vielfach verwendet. Es gibt hierfür aber keine biologische Begründung und tatsächlich hat es diese auh nie gegeben.“ Die Einteilung der Menschen in Rassen, unter anderem auf der Grundlage willkürlich gewählter Eigenschaften wie Haar- und Hautfarbe, diene dazu, offenen und latenten Rassismus mit angeblichen natürlichen Gegebenheiten zu begründen und damit eine moralische Rechtfertigung zu schaffen. Um dem auch juristisch ein Ende zu setzen, fordert der Kriminalbiologe Mark Benecke eine Anpassung des für Gleichheit „zuständigen“ Artikels 3 des Grundgesetzes. Mittlerweile gibt es dazu einen Entwurf. Rasse ist und bleibt also eine umstrittene Bezeichnung für eine Gruppe, die irgendjemand nach selbstgewählten  Ähnlichkeiten von Aussehen, Stoffwechsel, Bewegung, Wachstum, Fortpflanzung, Verhalten oder anderer von ihm oder ihr als wichtig angesehener Merkmale zusammengewürfelt, pardon: zusammengefasst, hat. Leute, die relativ wenig von Vererbungslehre (Genetik) verstehen, glauben allen Ernstes immer noch, dass die willkürliche Zuordnung von Individuen zu einer sogenannten Rasse auf eine genetische Abstammung aller Mitglieder dieser Gruppe zurückführen ließe. So wie So wie Homophobe aller Länder sich weiterhin voll im Recht fühlen mit ihrer Homophobie, dieser gegen lesbische und schwule Personen gerichteten Ablehnung und Feindseligkeit.

Auch hierzulande ist Rassismus so wenig ausgestorben wie Homophobie, auch wenn die Einteilung der Säugetierart Homo sapiens (Mensch) in Rassen aus wissenschaftlicher Sicht überholt ist und sichtbare Unterschiede – auch Verhaltensunterschiede – von Menschen nicht für Spekulationen über deren genetische Ausstattung und Abstammung taugen. Womit wir bei den „kleinen Paschas“ sind. Die öffentliche Diffamierung, Benachteiligung, Ablehnung und Anfeindung dieser selbstgewählten Gruppe verstößt wohlmöglich gegen das Gleichstellungsgesetz. Klar erzeugt bei mir als alter Emanze Paschagebahren, das offensichtlich bei männlichen Wesen verschiedenster Herkunft und Religion, aber ähnlicher menschen- vor allem frauenverachtender Weltanschauung, wieder schwer im Kommen ist, heiligen Zorn. Kann mich kaum beherrschen und bete dann innerlich immer das Gleichbehandlungsgesetz mit dem „Paragraphen“, der sich aufs Geschlecht (auch das männliche!) bezieht, rauf und runter wie einen Rosenkranz. Aber sämtliche Unausgewogenheiten unserer bundesdeutschen Gesellschaft einer Gruppe junger Männer ähnlichen Auftretens in die Hände zu legen, statt mal an den eigenen … die eigene Nase zu fassen? Was heißt hier Pascha? Pascha heißt ein Laufhaus in Köln, es gehört zu den größten Bordellen Europas und wird wohlmöglich nicht nur von Dunkelhaarigen aufgesucht.

Osmanisches Reich 1683

Im Machtbereich des Hauses Osman, das ab 1299 herrschte, zwischendurch auch über einen ziemlich großen Teil Europas, und dort alle Emire, Sultane und Kalifen stellte, war ein Pascha ein hoher Beamter oder Militär. Das Osmanische Reich gibt es seit 1922 nicht mehr. Beamten und Militärs schon. Wir nennen die jetzt mal die großen Paschas. Wir brauchen sie ja nicht gesetzeswidrig zu diffamieren. Das übernehmen einige dieser jetztzeitigen „Paschas“ selbst. Und die Pascha-Uniform ist im Kölner Karneval ein wenig aus der Mode gekommen, ebenso wie der Sultan im Song „Die Karawane zieht weiter“. 

Am Hamburger Hauptbahnhof steigen welche ein, die vom Jeckenzug am anderen Gleis berichten, dessen Insassen schon morgens früh um sechs hackebreit rumkrakelen und ramentern. Das Karnevalsgeschehen und seine Exzesse waren schon seit jeher schwer zu steuern. Die Räte und anderen „großen Paschas“ der Stadt Köln, Deutschlands ältester Stadt, haben über Jahrhunderte zu einschlägigen und oft erfolglosen Maßnahmen gegriffen: 1441 bestraften sie einen Wirt, weil er die Persiflage (die Verspottung, das Lächerlich-Machen) einer kirchlichen Reliquienprozession aufführte. In Sachen regionale Rituale möchte ich erläutern, dass Reliquie Zurückgelassenes bedeutet, dass eine Prozession ein religiöses Ritual ist, bei dem eine Menschengruppe sich meist zu Fuß auf einen nach bestimmten Regeln geordneten feierlichen Umzug begibt; dass sie bei einer Reliquienprozession Hinterlassenschaften, Überreste von Körpern oder ganze Körperteile, Überbleibsel von Besitz von Verstorbenen mit sich führen.

Reliquienprozession 1916 in Tobolsk

Und dass bis heute der Karneval und Fastelovend dem allgemeinen Verspotten gewidmet sind, auch dem Lächerlich-Machen katholischer Bräuche. Nichts anderes ist die Nubbelverbrennung am Karnevalsdienstag. Unter kirchlich klingenden Gesängen, mit kirchlichen Gesten klagt ein als Geistlicher verkleideter Karnevalsteilnehmer den Nubbel an, für alle Vergehen aller im Karneval schuldig zu sein. Die Stunker – die geniale und hochprozentige Crew der Stunksitzung brachte in diesem Jahr die Verabredungen eines in Unwürde geratenen hochrangigen Kölner Katholiken mit dem Teufel zur Aufführung – zum heulend Niederknien. Solchen „öffentlichen Unfug“ in geistlicher, Mönchs- oder Nonnenverkleidung beklagte schon im 17. Jahrhundert der Kölner Rat und verbot mehrfach „die Mummerey und Heidnische Tobung“.

Nubbel in der Kölner Südstadt (2023), Von Superbass – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=128784788

Nubbelverbrennung (2023), Von Superbass – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=128957481

Bei all diesen Erwägungen und Überlegungen verpasse ich fast die rituelle Rheinüberquerung. Kurz zuvor bin ich dann voll da, denn ich bekomme eine anspruchsvolle analoge Aufgabe: Mitreisende Elena aus Kanada hat genau eine Stunde Zeit, um ein Gebäude zu besichtigen, das an die 600 Jahre Baustelle war.

Koelhoffsche Chronik 1499

Der Dom zu Köln 1824

Illustrirte Zeitung 1843

Sie will das Gotteshaus sehen, das auch Ungläubige verehren, mit seinem 160 Meter hohen Wunder, das WWII nahezu unversehrt überstand.

8. März 1945

Manchen erscheint sie aufgrund ihrer einheitlichen und ausgewogenen Formen als die perfekte Kathedrale. Die wird in der ersten Zeile des extrem erfolgreichen Karnevalsliedes besungen, welches der Kölner Texter Hans Knipp und der damalige Bassist der Bläck Fööss 1973 mit dem Kassettenrecorder aufnahmen – angesichts ihrer Furcht vor Verlust von erschwinglichem Wohnraum, Bauspekulationen und vor Identifikationsverlust ihres Viertels (Veedels). Es ist eine toppaktuelle Karikatur von aberwitzigem Abriss und nicht notwendigem Neubau („wat nötz die janze Stadtsanierung schon“ – was nützt die ganze Stadtsanierung schon): Mer losse d’r Dom en Kölle. Da steht er noch, direkt neben dem Bahnhof.

Ich bugsiere die kanadische Kurzbesucherin und den karierten Koffer durch dessen hohe Halle und freue mich einmal mehr, dass sie dieses im Krieg stark beschädigte Gebäude nicht abgerissen haben – wie zum Beispiel den schönen alten Altonaer Bahnhof, den man nach Ausklingen des Wirtschaftswunders und Aufkommen des Konsumterrors durch ein Einkaufszentrum ersetzt hat, das an dieser Stelle niemand brauchte.

Kölner Hauptbahnhof 1951, By Manfred Niermann – own archive, CC BY-SA 4.0

In der geräumigen, lichten Bahnhofshalle fehlt nichts, auch nicht „de Aussicht op der Dom“, die Bläck Fööss in korrektem Kölsch in einem der ersten karnevalstauglichen Songs bejubeln, die ich damals – nein nicht vor 200 Jahren, es ist aber schon mehr als 30 Jahre her – erlernte: „Nä, nä Marie, iss dat nit schön; Överall nur kölsche Tön; Hee süht et wirklich us; Wie bei uns zu Huss. Hee fehlt nur vom Balkon …bitte einsetzen“. Marie ist übrigens das weibliche Wesen an sich, im Karnevalslied jedenfalls.

Und ich, Vera Maria, bin schon jot drop, gut drauf, als ich gleich hinterm Gleis die dicke Trumm höre und die Bläser die Melodie anstimmen von „Denn wenn et Trömmelche jeit, dann stonn mer all parat, un mer trecke durch die Stadt, un jeder hätt jesaat, Kölle Alaaf, Alaaf – Kölle Alaaf“ = „Denn wenn das Trömmelchen erklingt, dann sind wir alle soweit, und wir ziehen durch die Stadt, und ein jeder sagt, Kölle Alaaf, Alaaf – Kölle Alaaf“ (vollständiger Text folgt, wenn Elena vorm Dom steht, ich das (in Köln übliche Anrede für weibliche Menschen) Edith in seiner männlichen Version (Teufel) gesichtet und förmlich mit Alaaf – auch so eine Militärverarschung, bedeutet: alle abtreten! – begrüßt habe und der karierte Koffer in der gigantischen unterirdischen Gepäckablage verschwunden ist).

De große dicke Trumm im Straßenkarneval im Jahr 1967, Von Herrmoed – Eigenes Werk

Kurz bevor wir versuchen, die vollständig mit Karnevalstouristen verstopfte Treppe zur Domplatte zu erklimmen, kommt Ediths heidnische Anmerkung – sie hat Gründe, hat sie doch eine kölsche Klosterschulerziehung „genossen“: „Dä Himmel is nit bove. Un do unge is kein Höll“ Damit zitiert sie die 1972 gegründete Kölner Musikgruppe De Höhner  (Hühner). Der bin ich nahezu freundschaftlich gesonnen, wenn ich sie auch nur vom Hören kenne. Sie bewältigt gerade den Generationswechsel und auch die jungen Hähne krähen gut. Sogar in Wacken, und meinen, wir sollten unserem Herzen folgen und sonst nichts und niemandem, weil nämlich oben nicht der (christliche) Himmel sei und unten auch keine Hölle.                    

 

Film über die Kölner Band De Höhner, die in den 1970ern im Geflügelkostüm auftraten

https://www.ardmediathek.de/video/heimatflimmern/50-jahre-hoehner-von-koeln-in-die-welt/wdr/

Und das weiter oben erwähnte Trömmelchen-Lied stammt von De Räuber und lautet: „Jo am 11.11. jeht dat Spillche loss, denn dann weed dr Aap jemaht, ejal wat et och koss. De Oma jeht nom Pfandhaus, versetzt et letzte Stöck denn dr Fastelovend es für sie et jrößte Jlöck.“ Geht um die ältere Generation. Die Großmutter versetzt, bevor am 11.11. (das ist der offizielle Beginn der Kölner Session, des Sitzungskarnevals) das Spielchen wieder los geht und der Affe rausgelassen wird, im Pfandhaus ihr letztes Stück, denn Fastelovend ist ihr größtes Glück. Mir widerfährt jroßes Jlöck auf der Philharmonie. In Köln spielt die Musik nicht in einem alles überragenden Gebäude, sondern unterm Heinrich-Böll-Platz, nicht weit von den Treppen, die zum Rheinufer runter führen. Die Kölner Hörer*innen haben daher andere Probleme als Besucher*innen der mehr als 100 Meter hohen Konzerthalle am Hamburger Hafen. In ihr unterirdische Amphitheater dringen die Geräusche von Rollkoffern, Skateboards und Stöckelschuhen. Teufel und Hexe, erfahrenes Karnevalsduo, sind erstmal still. Der hungrige Hamburger Jeck erhält eine dicke Siedeworscht. Das ist eine dicke Brühwurst, die vorm Garen für etwa 50 Minuten im Heißrauch geräuchert wurde. Noch muss ich ja nach karnevalistischem Brauch das Fleisch nicht weglegen und für den Erhalt der Artenvielfalt versuche ich – zweifelnd, ob individuelle Verhaltensweisen den ökosozialen Wandel bringen können, wissend, dass es um Vorbildfunktion (auch da hat sich schon vieles gedreht, heute sind ja oft Junge Vorbilder für Altmodische) geht – dort voran zu gehen, wo es noch nicht so viele Vorbilder gibt wie beim fleischfreien Futtern, z.B. beim konsequenten Nichtfliegen, Zufußgehen, Bahnfahren trotz aller DB-Komik, Verzicht auf elektronische Ganztags-Betreuung durch Apps und energiefressende Apparate. 

Stecke meine lange Hexennase in den Senf und gucke auf den Rhing (Rhein). Hab mich doch in meiner Kölner Zeit (1980er-Jahre) der Ausbildung in Sachen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit – Wortfindung im Speziellen und Allgemeinen – manchmal gefragt, warum sie ihre „Stadt am Ring“ besingen, sind doch laute und stinkende Ringstraßen nicht anhimmelungsungswürdig. Aber Rhing steht für Vater Rhein. Und Kölle ist weiblich, das wiederum habe ich von den Bläck Fööss gelernt: „Du bess die Stadt, op die mer all he stonn, du häs et uns als Pänz schon aanjedonn; Du häs e herrlich Laache em Jeseech; Du bess die Frau, die Rotz un Wasser kriesch. Du bess die Stadt am Rhing, däm jraue Strom, du bess verlieb en dinge staatse Dom, du bess en Jungfrau un en ahle Möhn; Du bess uns Stadt un du bess einfach schön.“ Die Ode lautet zusammengefasst, Köln sei die Stadt auf die alle Anwesenden stehen, habe es denen schon als Kinder angetan, habe ein herrlich Lachen im Gesicht, sei die Frau, die Rotz und Wasser heult (das ist mein Lieblingsrefrain, hoch sollen Frauen leben, die noch Rotz und Wasser heulen können!), sei die Stadt am Rhein, am grauen Strom, sei verliebt in ihren stattlichen Dom, sei eine Jungfrau und eine Alte (ahle Möhn klingt so schön!), sei die Unsre und einfach schön. Wir flanieren dann auf einer Promenade namens Frankenwerft flussaufwärts zum Fischmarkt vorbei, wo Männer mit heruntergelassener Hose an Freiluft-Pissoirs stehen, die auch für die Anwohner*innen eine große Erleichterung bedeuten; wo mir bei diesem Anblick schon wieder ein Ohrwurm durch die Birne kriecht☺, einer von den Höhnern: Echte Fründe ston zesamme; Ston zesamme su wie eine Jott un Pott. Echte Freunde stehen zusammen und so weiter. Ich liege ehrlich gesagt als alte Frauenrechtlerin den älteren Hähnen zu Füßen für das 1978 entstandene Lied „Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche“ und muss dazu schreiben, dass Blootwoosch in Köln im Restaurant oder beim Schlachter als Flöns bzw. Blutwurst erhältlich ist und lecker als Eigenschaftswort eher mit Anbetung als mit Vernaschen zu tun hat. Nun muss es mal geschrieben werden, das mit den leckeren Menschen. Beziehe meine Info aus Adam Wredes „Neuer Kölnischer Sprachschatz“, der mehr als 50.000 kölsche Wörter enthält. Demnach bezeichnet das Wort lecker bezeichnet nicht nur, dass etwas „lecker“ schmeckt, es wird auch auf andere Dinge übertragen: zum Beispiel „Wat ruche de Blome lecker“ = Die Blumen riechen aber lecker. Wenn das Wort lecker auf Menschen übertragen wird, schreibt Wrede, sei damit nicht die Verdinglichung gemeint, sondern eher, dass jemand schön, hübsch oder einfach angenehm ist. 

Und, was kaum eine weiß: Das 1979 rausgekommene Lied der Höhner „Ich ben ne Räuber“ ist ein Emanzipationssong. Wer bis zum Ende nüchtern zuhört, erfährt, dass er vorgibt, seine Freiheit gehe ihm über alles, sich dann schwer in sie verliebt und ihren Abschiedszettel findet, auf dem sie mitteilt: „Ich ben och ene Räuber, leeve Pitter; Ben ne Räuber durch un durch; Ich kann nit treu sin, läv en d’r Daach ren; Ich ben ne Räuber, maach m’r kein Sorch.“ Wobei „läv en d’r Daach ren“, in den Tag hinein leben, und „maach m’r kein Sorch“, die Sorge, dass sich wer an sie hängt, wohlmöglich auf Polyamourie hindeuten, jedenfalls auf Freiheitsliebe. Der nächste von mir blitzschnell auswendig gelernte und auf der Bank im Brauhaus gebrüllte Höhner-Hit war 1998 „Die Karawane zieht weiter … dä Sultan hät Doosch“, drei Jahre später schmolz ich dahin bei „Dicke Mädchen haben schöne Namen“. Ich geb das ehrlich zu und ergänze, dass in ganz Kölle scheinbar niemand etwas dagegen hatte, dass die Namen Tosca, Rosa und Carmen, die die Höhner als besonders schön erkoren haben, beim Bau der dortigen Nord-Süd-Bahn für die drei Tunnelbohrmaschinen gewählt wurden. 

 

Aber wir waren ja bei den Männern stehengeblieben. Während Edith ihren Teufelsumhang im gut verriegelten Dixie-Klo lüftet, betrachte ich ein beschriftetes Gemäuer. „Em Zuckerbuckel“ steht darauf. Und etwas von Kölns ältestem Hotel. Ich merke auf, von Deutschlands ältester Stadt hat der von diesem Land ausgegangene Krieg ja nicht viel stehen gelassen. Selbst Edith, Kölsches Urgestein, hat von diesem Gasthaus noch nichts gehört. Und ich werde erst später nach längerer Suche beim Kölner Brauerei-Verband fündig, dessen wie ein gutes Kölsch gepflegte Tradition bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht: „Am linken Rheinufer lagen, genau wie heute noch, die Gasthäuser … mitten im Herzen der Kölner Altstadt dicht an dicht. Hier lagen nebeneinander auch zwei Kölsche Wirtschaften von ältester Tradition und größter Beliebtheit. Die eine, „Zur Kloog“, wurde 1589, die andere, „Em Zuckerpuckel“, 1651 erbaut.“ Hier hätten „bessere Bürger“ verkehrt und Deutzer Kürassiere. Für alle Militärfernen: Kürassiere gehörten zu den Landstreitkräften zu Pferde. Den Namen habe das Lokal von einer Köchin “mit einer etwas hohen Schulter”, wie der Brauerei-Verband es umschreibt, die hier kochte.

Ich folge Edith rheinaufwärts gen Süden. Wir kommen am neuen Wohn-, Büro-, Dienstleistungs- und Gewerbekomplex Rheinauhafen vorbei und biegen links ins Vringsveedel, das Stadtviertel um die Severinskirche herum. Hier in der Südstadt kriegt der Straßenkarneval Kontur, erfreulich nach dem rein touristischen Gedrängel um den Bahnhof herum. Auf dem Platz „An der Eiche“ bringen wandernde Kapellen alte Lieder zu Gehör bzw. die Umstehenden zum Singen, die Kostüme werden hier handgemachter und spezieller, es ist richtig gemütlich und öffnet Herz und Sinne für weitere Reize der Weiberfastnacht. Wir gelangen durch schmale Gassen zum Chlodwigplatz und nehmen beim Italiener Platz. „Olala willst du eine Pizza“, summt Edith vor sich hin. Schon wieder de Höhner, 1989, als ich das erste Mal und mit allen Schikanen in der Kölner Karnevalswoche versackte und erst lange nach Aschermittwoch wieder richtig auftauchte, schwärmten sie im damaligen Karnevalshit von „Pizza wundaba“. Unser italienisches Menü ist wirklich wunderbar. So gestärkt treten wir auf den Platz, schieben uns möglichst elegant bis zur Absperrung durch. Wir wollen dem Spiel von Jan un Griet beiwohnen, dem alten, dem historischen, in dem es um Liebe, Hochmut, Arm und Reich und spätes Erwachen geht. Ich danke koeln.de und kopiere: „Der Knecht Jan vom Kümpchenshof wirbt um die Liebe der Marktfrau Griet. Diese verschmäht seine Liebe, da er ihr nicht fein genug ist. Daraufhin zieht Jan in den 30-jährigen Krieg und kommt nach Jahren als berühmter Feldherr und General Jan von Werth wieder. Griet bereut es, Jan damals abgewiesen zu haben und spricht die historischen Worte: “Jan, wer et hätt jewoss!” (hochdeutsch: Jan, wer das gewusst hätte). Aber Jan lehnt sie mit den Worten: “Griet, wer et hätt jedonn!” (hochdeutsch: Griet, wer es getan hat) ab.“

Zuständig für diese jährlich wiederholte Veranstaltung ist das imposante Reiter-Korps Jan von Werth, ein 1925 gegründeter Karnevalsverein. Er gehört zu den Traditionsgarden, und eine Garde im Karneval kann eine Gruppe sein, die das Militär persifliert oder eine Tanzgruppe oder beides. 

Und diese Garde, die reitet, tanzt, marschiert und schauspielert, war mit der Aufführung schon fertig, als wir uns die besten Plätze erkämpft hatten. Aber wir bewundern von oben herunter – sind auf irgendwas raufgeklettert – andere Wiever (Frauen). Eine trägt stolz eine schwarze durchbrochene handgemachte Haube, ihre grünen Augen leuchten zwischen weißen Perlen auf Stirn und Schläfe, das glänzende weiße Gewand sitzt wie angegossen. Und ist selbstgeschneidert, wie wir erfahren. Das Kostüm schwebt zwischen Vergangenheit und Zukunft wie seine Trägerin, die an LARP teilnimmt. Hier danke ich wikipedia und copypaste: LARP ist Live Action Role Playing, „eine Form von Rollenspielen, bei denen die Teilnehmer ihre Spielfigur physisch selbst darstellen.“ Die Spieler tragen den Charakteren entsprechende Gewandung.“ Die Gewandung der Playerin auf dem Chlodwigplatz ist historisch inspiriert und hat aber auch Science-Fiction-Elemente. Die Kringel auf ihrem Haupt stellen Bagels dar.

Wir klettern von unserer Empore zum Singen und Schunkeln – ja, das habe ich anfangs als Norddeutsche strikt verweigert, jetzt gebe ich auf den kleinsten Weg Ellenbögchen. Ich schwinge meinen schwarzen Rock, den uralten, und bewundere ein nicht berittenes Mitglied des Reiter-Korps im Priesterornat. Diese Verkleidung ist fast völlig aus dem Kölner Karneval verschwunden, die Ur-Katholiken treten reihenweise aus der Kirche aus, deren Würdenträger gerade das letzte Restchen Würde verspielen. Stecke in Staub und Skandalen unter den Talaren (verschwundene Gelder und Missbrauchsfälle) nicht drin und möchte nichts Falsches schreiben, zumal ich mich mit den Klerikalen so gar nicht auskenne. Mein üppiger Jeck des Tages lässt jetzt seinen schwarzen Talar wirbeln und interpretiert die Segnung neu, inszeniert unkatholisches Liedgut mit großer Geste, voller Schwung und gutem Geist. Pantomisch illustriert er den Polterovend(Polterabend)-Blues der Bläck Föös: „Hück es Polterovend en d′r Elsaßstroß; Denn d’r Pitter hierot morje et Marie; Dat Marie hätt ich sujän för mich jehat; Ich han et och probeet, doch mich, mich wollt et nie“. Kurzfassung: Marie heiratet einen anderen. Und unser Pope segnet mit offenen Armen alle Verliebten, schüttet seinen Segen über all die Jecken aus, wen auh immer sie lieben. Zum Niederknien. 

Talar-Kostüm

Live-Action-Roleplay (LARP), Von Ralf Hüls – Originally published here, CC BY-SA 2.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=631666

Reiterkorps Jan von Werth auf dem Chlodwigplatz

Wir ziehen weiter, nunmehr zu viert. Zum Merzenich. Da gibt es Schmalzgebäck. Keine Karnevals-Kräbbelchen, Edith meint, die seien zu aufwändig in der handwerklichen Herstellung für diesen Massenbetrieb, und auch keine Mutzen, dieses eher flache rheinische Siedegebäck, dafür Mutzenmandeln. Und vier Weiber gucken Kostüme. Was sich da vor den riesigen Fenstern der Bäckerei über den Chlodwigplatz schiebt ist mit bunt nicht zu beschreiben, macht Lust auf Vielfalt, auf Aus-der-Reihe- und In-der-Reihe-Tanzen, Über-die-Stränge-schlagen, Rumtreiben, öffentlichen Unfug und heidnische Hoppserei. Sie schlüpfen aus Zwangsjacken von Generation, Geschlecht, Gesinnung und wissen noch nicht genau, was sie tun werden. Das funktioniert auch noch nach 200 Jahren. Karneval rockt und lockt und entfaltet seine unbezwingbare alte Energie. Immer wieder neu. Und ist auch eine Art unwiderstehliche Inklusions-Maschine, eine Kundgebung in Sachen Vielfalt und Gleichheit auch in körpernächster, allerengster, dünnster Hose. Abwegige Gedanken und Gespräche dazu stoppt Edith. Sie hat auch ohne ihren sonst üblichen Dreizack Autorität und weiß, wofür im Karneval Platz ist, wofür nicht. Es gibt nämlich auch Regeln für echte kölsche Jecken. Zum Beispiel: Vorurteile zu Hause oder ins gepflegte Unwissen fallen lassen und „Jede Jeck es anders. (Jeder Narr ist anders.) = Nimm deine Mitmenschen, wie sie sind. Auch erweitert: Jede Jeck es anders, jeder es anders jeck, und jet jeck sin mir all. (Jeder Narr ist anders, jeder ist anders närrisch, und ein bisschen närrisch sind wir alle. Echte kölsche Jecken haben die Zeiten der Maßnahmen seit Fastelovend 2020 haben schöpferisch genutzt. Das zeigt sich bei der fantastischen Stunksitzung dieser Session und beim Aufmarsch – Militär-Persiflage s.o. – des Reiterkorps Jan von Werth. Im Fußvolk marschieren stolz zweieinhalbjährige Nachwuchskräfte und die Zugbegleiter sind Neu-Jecken, sie stammen unter anderem aus dem ehemaligen osmanischen Reich. Ich fange ein Strüßje, bei solchen Zügen ist es üblich, den Damen Blumen zuzuwerfen. Unsere Karawane wird wieder kleiner und zieht weiter. Durch Aufsagen eines Zauberspruches gelingt es mir, den Türsteher vor der Wagenhalle zu überzeugen, er lässt mich einen Blick hinein werfen. In dieser ehemaligen Feuerwache feiern an Wieverfastelovend – gegen Eintritt – unter anderem Künstler*innen und Stammgäste des benachbarten COMEDIA Theaters (wo im „Zentrum der Kultur für Junges Publikum Köln und NRW“ inklusiv und interkulturell über alle Sparten hinweg performt wird). Regionale und internationale Koproduktionen, Gastspiele und Festivals prägen das Jahr. Das arbeitet mit einem Kulturverständnis, das partizipative Formate beinhaltet, ist. 

In der Lutherkirche ist Kinderfest. Auch die Kleinen genießen entfesselt und in vollen Zügen. Edith und ich schlendern zum Volksgarten. Von dort aus wird der Riesenhelikopter über der Zülpicher Straße im Univiertel „Kwartier Latäng“ hör- und sichtbar. Im Studenten-Quartier  feiern Tausende, es ist wegen Überfüllung gesperrt. Und diese Bilder fluten die Medien und sorgen für Empörung und Entsetzen – an norddeutschen Stammtischen. Richtig viel Schreckliches geschieht nicht außer Saufen und Gedränge. Im Nachhinein lese ich, es wäre vereinzelt zu Körperverletzungen gekommen, Leute auf E-Rollern hätten sich dumm und dusslig gefahren und: Ordnungshüter sollen Leute gegen illegale Gebühr – Schmiergeld – durch die Absperrung gelassen haben. Soviel zum Thema Unordnung. In der U-Bahn zum Neumarkt erfahren wir von Ediths Sitznachbar, dass er das Feiern abgebrochen hat, damit seine Freundin noch etwas von ihm hat, und von meinem, dass er als Sicherheitsfachmann erlebt, dass Karneval auch nicht mehr der ist, der er mal war. Ich wünsche mir ganz spontan den kultivierten Kölner Karneval, den ich vor Jahrzehnten erlebt habe. Und siehe da … Fortsetzung folgt. Erstmal steigen wir in die Straßenbahn der Linie 1, die die Stadt von Refrath im Osten, wo ich mal in einer kölschen WG gewohnt habe, über Heu- und Neumarkt in der Mitte nach Weiden im Westen durchquert. Einsteigen hört sich locker an. Unter Einsatz von deutlichen Hüftschwüngen erklimmen wir die beiden Sitzplätze gleich neben der Tür. Dort geht der Nahkampf weiter. Edith wird von einem älteren Herren bedrängt, der sie über mehrere Stationen zutextet über den allgemeinen Mangel an Bildung und auf keinen Fall zuhören möchte. Wir diagnostizieren einen auffälligen Mangel an Herzensbildung bei diesem Manne und einen Hang zur verbalen Übergriffigkeit. Und steigen in Junkersdorf aus. Dieser linksrheinische Stadtteil steht schon seit den 1920ern für exklusives Wohnen in grüner Umgebung. Wir wohnen dort für zwei Nächte im Hotel. Gleich gegenüber befindet sich in einem sehr unscheinbaren grauen Anbau vor einem 1960er-Jahre Wohnklotz ein Lokal: „Seit 1994 servieren wir in unserer Gaststätte “Bei mir zu Haus” traditionell kölsches Essen in angenehmer Atmosphäre. Ali und Katja haben das Restaurant mit viel Herzblut und Leidenschaft aufgebaut und betreiben es seit nunmehr 26 Jahren gemeinsam mit einem freundlichen, aufgeschlossenen Team. Die Speisen sind von hoher Qualität und das Menü lässt keine Wünsche offen für einen Besuch in einer waschechten kölschen Gaststätte. Wer hier zu Gast ist, wird herzlichst empfangen und darf sich – wie der Name es schon sagt – wie zu Haus fühlen.“ Stimmt. Hatte schon gar nicht mehr mit Karneval gerechnet, vor allem nicht mit wunschgemäßem, und war nicht kostümiert. Und wurde wirklich herzlich aufgenommen als Ortsfremde im Gewöhl (Gewühl) vorm Tresen. „Das Interieur überzeugt mit seinem traditionellen Charme und bietet Platz für eine Vielzahl von Gästen. Insbesondere bei Spielen des 1. FC Köln finden sich viele Fans zum gemeinsamen Public Viewing in unserer Gaststätte ein, für die wir gerne auch vor den regulären Öffnungszeiten unsere Türen öffnen. Besuchen Sie uns gerne auch in der Karnevalszeit, in der wir oftmals hohen Besuch der berühmten Kölner Karnevalsgarden empfangen.“ Letzteres sieht man, sämtliche Kölner Dreigestirne hängen an den Wänden. Und die Damen und Herren an dieser kultivierten kölschen Stätte tragen überwiegend Uniform. Live-Rollenspiel könnte eine schreiben, denn diese mittlerweile Unisex-Uniformen orientieren sich an historischen Vorbildern, insbesondere Uniformen aus dem 17. bis 19. Jh. So uniformiert und kostümiert hat sich hier die Nachbarschaft kultiviert versammelt. Und wir tanzen. Ungeniert und kultiviert. Edith fotografiert mich Arm in Arm mit einem Tier, dessen tiefe Bedeutung ich in jenem Moment nicht erfasse. Es ist der Steinbock, das Logo vom 1. FC Köln, der von sich behauptet, etwas ganz Besonderes zu sein, „spürbar anders“, weil Fans und Mitglieder diesem Club selbst dann nicht verlorengehen, wenn er keine Titel gewinnt. Die scheinen den FC St. Pauli nicht zu kennen. Spaß beiseite. Die Kölner Fans gehen mit ihrem Club durchs Feuer und singen mit den Höhnern folgende Hymne: „Mer stonn zo dir, FC Kölle! Un mer jonn met dir; Wenn et sin muss durch et Füer; Halde immer nur zo dir, FC Kölle!“

 

Kiffen für den FC

Uniformiertes Fußkorps 

Die Stunksitzung gucken Edith und ich uns im Fernsehen an. Als Limnologin und altgediente Umweltschützerin bestrickt mich ein gestricktes Bühnenbild. In dieser in der Kölner Südstadt in sehr vielen Stunden handgemachten Kulisse zeigt das Ensemble der Stunksitzung das erleichterte Aufleben von Vater Rhing nach dem Ableben der Art Homo sapiens. Sitzungspräsidentin Biggi Wanninger weist auf den Upcycling- und Nachhaltigkeitsaspekt hin – sie wird von Jahr zu Jahr tiefenkomischer, ihr Humor kommt aus den Tiefen ihrer weiten Seele – und Edith,mit ebensolchem Humor ausgestattet, weist auf die gute Verstrickung alias Vernetzung der Stunker mit ihrem Stadtteil hin, nur die  macht so etwas möglich. 

Das Bühnenbild ist komplett gehäkelt und gestrickt, so dass die rheinische Sage von der Loreley und Vater Rhein diesmal besonders farbenfroh zur Geltung kommt. https://www1.wdr.de/unterhaltung/karneval/lange-stunksitzung-100.html

Biggi Wanninger ist Präsidentin der Stunksitzung

Am Karnevalsfreitag bin ich in voller Berufungskleidung, mit spitzem schwarzem Hut und schwarzem
Umhang von Junkersdorf durch den Äußeren Grüngürtel, der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer sorgte nah dem Ersten Weltkrieg dafür, dass diese Flächen nach einem Generalbebauungsplan des Hamburger Stadtplaners Fritz Schumacher in Parkanlagen umgewandelt wurden, auch um dadurch Bodenspekulationen zu vermeiden, nach Sülz gewandert. „Guck mal ´ne Hexe!“ sagen die Kinder. Und ich sage, ich würde schon mal nach den ersten Kräutlein Ausschau halten. Und tatsächlich, im dank gelungener und beispielgebender CDU-/SPD-Kooperation (Adenauer gehörte zu den Begründern der CDU, Schumacher ist noch zur Kaiserzeit, vor der Novemberrevolution in die SPD eingetreten) ökologisch hochwertigen Grüngürtel sprießen neben Schneeglöckchen-Pulks taufrisches Scharbockskraut (Ranunculus ficaria). Scharbock ist Skorbut und Kräuterkundige nahmen früher gegen diese Mangelerscheinung im frühen Frühjahr die extrem Vitamin-C-haltigen jungen Blätter – dringender Hexenrat: nur vor der Blütezeit ernten und nur, wenn ihr das Kraut sicher erkennt! Schmecken lecker als Beigabe zu Salaten und Quark – des Scharbockskrautes ein, das als allererste natürliche Vitaminquelle gefeiert wurde. Es gedeiht am besten in Gebüschen, Hecken und Laubwäldern, die wir á la Adenauer & Schumacher unbedingt überall anlegen müssen müssen, wo es irgend möglich ist: Enteignen á la Adenauer/Aufforsten und Commons schaffen á la Schumacher sind ökosozial angesagt! Schluss mit dem aggressiven en Abholzen, den kenntnisfreien Kahlschlägen, den ruppigen Rodungen! Wie im Kölner Grüngürtel zu sehen, dauert es an die hundert Jahre, bis so ein Wald steht! An dessen Rand haben sich im späten Februar auch zarte junge Brennnesseln (Urtica) hatten sich durch duftenden Humus (der kommt auch nicht von ungefähr und wird auf Erden in Folge von konsequenter Misswirtschaft gerade knapp) und verottendes Laub gewühlt. Lasse sie mir prickelnd auf der Zunge zergehen und hype einmal mehr diese Pflanze: für die Raupen von 50 Schmetterlingsarten sind bestimmte Brennnesselarten das beste Futter – schon mindestens seit der Antike nutzten unsere Ahn*innen die frischen Brennnesseltriebe im Frühjahr, sie enthalten doppelt soviel Vitamin C wie Orangen – unsere Brennnesseljauche erhöht im Altonaer Stadtteilgarten (KEBAPGarden, kulturenergiebunker.de) die Widerstandskraft unseres Gemüses gegen Schädlinge und ist kraftvoller natürlicher Dünger – die Brennnessel war Heilpflanze des vergangenen Jahres, denn, wie phytodoc.de verkündet, mag die Brennnessel (Urtica dioica) mag zwar mit ihren Nesseln abschrecken, „sie gilt aber als Königin der Heilpflanzen. Warum? Weil sie sowohl durch einschlägige Kommissionen geadelt wurde, als auch in der Volksmedizin sehr geschätzt wird. Verwendet wird fast alles: Die Blätter, die Wurzel und auch die Brennnesselsamen.“ Eine, durch die Kommission E , eine selbstständige wissenschaftliche Sachverständigenkommission für pflanzliche Arzneimittel des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gesicherte, positive Wirkung verspricht deren Wurzel bei einer gutartigen Prostatavergrößerung (benigne Prostatahyperplasie) – bei Arthrose und rheumatischen Beschwerden sind demnach die Brennnesselblätter wirksam und bei Harnwegsentzündungen und Blasenerkrankungen zählt die entwässernde Wirkung. Doch auch wenn es nicht um Krankheiten, sondern um Anti-Aging, Schönheit, Vitalität und Genuss gehe, empfiehlt phytodoc.de kann die Brennnessel: „Eine dreiwöchige Brennnesseltee-Kur ist als bewährtes Hausmittel der Anti-Aging-Klassiker. Im Frühjahr und Herbst versprach sie elastische Haut und volles Haar. Und im Juli/August ist die beste Sammelzeit für die weiblichen Brennnesselsamen und die männlichen Pollen. Beide bündeln die Essenz der Pflanze und stehen traditionell für Potenz & Vitalität.“ Wer will schon Kraft-, Leb- und Machtlosigkeit, Unvermögen und -fähigkeit? Also ran an Brennnesselsuppe und -spinat. Genau jetzt. Und noch ein Hexentipp: die Ernte  in ein Tuch wickeln und kräftig wringen oder sehr fein schnibbeln oder mit einem Nudelholz durchwalken oder ihr kräftig duschen oder kurz überbrühen oder trocknen, dann ist das Kraut nur im übertragenen Sinne reizend. Und als Kräuteranfänger*innen könnt ihr euch sehr einfach auf ein seit Jahrtausenden erprobtes Gewürz stürzen, das sich besonders für radikal regionale Küche eignet und nicht nur im Kölner Grüngürtel genau jetzt sprießt: die Knoblauchrauke (Alliaria petiolata). Versteinerte Pflanzenreste, die im schönen Neustadt in Holstein (echter Tipp auch für Rheinländer*innen ☺) gefunden wurden, beweisen, dass sie schon in der Steinzeit, vor 6000 Jahren genutzt wurde. Damit ist die Knoblauchsrauke das älteste bekannte einheimische Gewürz. Im Mittelalter war es im Gegensatz zu Pfeffer u.a. für alle bezahlbar, wenn nicht kostenlos (ideale Pflanze für unsere neuen Stadt- und Dorfanger und Allmenden!). On topp wirkt dieses auch im Schatten gedeihende Pflänzchen antiseptisch (innerlich „desinfizierend“), leicht harntreibend und schleimlösend. Die Volksmediziner*innen munkeln auch von einer positiven Wirkung bei Asthma, Insektenstichen und Wurmerkrankungen. Wir machen mit Knoblauchsrauke, die so schmeckt, wie sie heißt, norddeutsches Tsatsiki (Altonas Kochkulturen, siehe: kulturenergiebunker.de, am 3. März geht es wieder los mit unserer freitäglichen Straßenküche für alle und wir nehmen auch Rheinländer*innen herzlich auf☺). 

Ich pilgere im Äußeren Grüngürtel, der so „grün“ ist, dass sich dort auch Eulen und Fledermäuse wohl fühlen am Decksteiner Weiher entlang zum friedlichen Ende der Zülpi. Und will wieder keine Pizza, auch wenn der Wirt der kleinen Osteria den Teig wirft, wie es vielleicht nur ein Italiener kann. Er singt dabei – wirklich! – etwas von Amore und so. Auf der Tafel stehen aber auch Gnocchi Pomodore Basilikum – und die stehen dann auch bald vor mir. Der Wirt singt weiter. Kein einziges Karnevalslied, lauter mir wohlbekannte italienische Schlager aus den 1950ern bis 1980ern. Ti amo! O Sole mio! Und dann schlendere ich die Zülpicher Straße stadteinwärts, komme an prima Gaststätten en vorbei. An einer steht: „Wir haben kein W-LAN! Redet miteinander! Tut so, als wäre es 1995!“ Die nächste hat W-LAN, ist ein ausgesprochenes Wohlfühl-Café und heißt „Wo ist Tom?“ Es ist nach dem Niederländer Tom Mutters benannt, der als UNO-Beauftragter für „Displaced Persons“ – so der Ausdruck für Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und andere Menschen, die von den Nazis verschleppt worden waren – nach dem Krieg das Leid geistig behinderter Kinder in den Lagern und Anstalten kennen, gründete 1958 die Bundesvereinigung Lebenshilfe, um die Situation für Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland zu verbessern, und war an der Gründung der Kölner Lebenshilfe beteiligt. Sie wurde Ende 2012 ins Leben gerufen, um Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Das Café war ihr erstes Projekt. Spazierengehen und Einkehren bilden auch. Im „Wo ist Tom?“ trinke ich einen Kräutertee. Und hab es nicht mehr weit zum Internationalen Caritas Centrum – Köln Sülz. Wo wir schon bei Namen sind: Der Stadtteil in Kölns Südwesten hat seinen Namen von einem Fronhof, der im 12. Jahrhundert erstmalig als Villa Sultz erwähnt wurde. Bis die wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit der Bauern vom Grundherren nah Jahrhunderten der Auseinandersetzungen und Aufstände im 19. Jahrhundert ein Ende fand, mussten die Bauern dem Bewohner dieses Gutshofes persönlich zu Frondiensten stehen und Abgaben leisten. 

Bauern bei der Ablieferung ihrer Abgaben an den Grundherren

Und wo wir schon bei deutscher Geschichte sind: Nur wenige Jahrzehnte nach der Bauernbefreiung gründete die katholische Kirche „gegen prekäre Arbeitsbedingungen, Armut, Krankheit“ die Caritas. In deren Räumen in Sülz fand das Ensemble der Wandersitzung nach seinen Wanderjahren seinen Karnevals-Standort. „Karneval mit niedrigster EINFALTQUOTE“ versprechen die Macher*innen dieser Laiensitzung, die vor über 25 Jahren in der Kölner Südstadt, in der Kult-Kneipe Wundertüte das erste Mal stattfand, die mittlerweile auch die 40 überschritten hat und nach Sülz gewandert ist, wo sich nun  der wahrscheinlich beste Kicker der Stadt befinden soll. 

Edith bringt zwei Freundinnen mit und wir erobern einen der begehrten Stehtische mit Barhockern zu Füßen unserer Kult-Kapelle, der Chris Kun O Band. Und ich gucke auf die Webseite der Wanderer und finde mich: „Charmant chaotisch, kolossal kreativ“ seien sie, das hat Vera Stadie von Stadie Kommunikation 2020 geschrieben, nach dem letzten Karneval vor den … emien. Und was schreibe ich in diesem Jahr? Die Band, vor allem die Sängerin Xenia, haut mich um, holt mich vom Barhocker. Uns wird als nächstes das erste „frauliche Dreigestirn“ präsentiert und es stellt einer die Frage: „Wie darf ich Sie heute lesen?“

Ein Alphorn wird auf die Bühne getragen, um die Büttenrednerin aus dem Gebirge zu begrüßen, wir vernehmen das Lied von der religiösen Intoleranz und den Vorschlag von Agnes aus dem Sauerland, eine Kölner Straße Lecker-Mädchen-Chaussee zu nennen. Ich vertraue da auch Agnes aus dem Sauerland, in deren Rolle eine Laiendarstellerin der Wandersitzungs-Crew schlüpft. Frauenfeindlich sind die eigentlich nicht, nur kölsch und „immer jarantiert schräg und herrlisch anders“. Manche der kultig-traditionellen Verzällcher (Redebeiträge) und Anekdötcher verstehen wir nicht, andere sind irre komisch und richtig bissig. Macht bloß weiter so, wir kommen wieder!

Am Samstag bin ich im Prympark zur Karnevalsparty eingeladen. Das Gelände in Düren heißt so, weil die Familie Prym, Inhaber des ältesten oder zweitältesten (da gehen die Angaben auseinander) industriellen Familienunternehmens in Deutschland, dessen metallische Kurzwaren mir als Tochter einer Nähenden sehr gut bekannt sind, hier ein Stück Land besaß. Die Pryms übergaben ein Teil des Grundbesitzes der evangelischen Kirche. Die wiederum entschied sich für ein Mehrgenerationen-Cohousing-Projekt (der Begriff Cohousing kommt aus Dänemark, wo seit den späten 1960ern private Wohnungen um gemeinsam genutzte Flächen herum gebaut werden).Gemeinschaftsräumen im Cohousing Prympark gehört das Wasch-Café. Hier feiern wir. Ich im schlotternden Kapitänsjacket. Den zweiten Platz in der Kostümprämierung bekommt: Ediths Blondie-Verkleidung. Und wir trudeln im Live-Rollenspiel (LARP) über die Tanzfläche, die schüchterne Blonde und ihr unbeholfener norddeutscher Käptn. Wenigstens hat er Korismo (Charisma). Aber das wiederum verstehen die Kölner*innen nicht.