Wir stammen alle aus Gogols Mantel oder Wer die Schönheit angeschaut mit Augen
Sie würden es dem Markt überlassen. So interpretiert Detlef Lemme http://farbenkugel.de die Antwort von Hamburgs Politik auf die Anfrage seines Vornamensvetters Detlef Stechern http://halkyone.de. Ersterer Detlef, Lemme, trug am 15. März seine Handdruckpresse in den Lamp´lweg 10 – gleich um die Ecke vom Altonaer Bahnhof, der bereits 1974 den Supermärkten und Warenhäusern überlassen wurde (der vorherige Abriss erfolgte trotz massiven öffentlichen Widerspruchs).
Ansichtskarte Altona Haupt-Bahnhof, Von unbekannt – http://www.zeno.org – Zenodot Verlagsgesellschaft mbH
Der 15. März ist, seit am 15.03.2018 die traditionellen Drucktechniken ins Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen wurden, Tag der Druckkunst https://www.tag-der-druckkunst.de/. Zu diesem schönen Anlass druckt Lemme Eisvögel als Holzschnitt.
Detlef Lemmes Aktion zum Tag der Druckkunst im Altonaer Antiquariat Halkyone
Detlef Lemmes Holzschnitte auf den Seiten eines antiquarischen „Brehms Tierleben“, Fotos: Vera Stadie
Detlef Lemme druckt die Holzschnitte auf die Seiten eines antiquarischen „Brehms Tierleben“ und übt auch politisch Druck aus. Zur Politik kommen wir noch früh genug, ziehen wir mal die schönen Vögel vor: Diese exotisch anmutenden Wesen leben an Hamburgs mäßig schnell fließenden oder stehenden, klaren Gewässern. Und Stechern, den ich 2014 für unser Buch „Hoodies, Hirschhornsalz und gute Worte – Kleine Läden in der Großen Bergstraße“ (Selbstverlag, Fotografien: Regine Christiansen, Restexemplare gegen Spende für Halkyone im Antiquariat am Lamp´lweg 10) interviewe, erklärt mir damals als Erstes, dass Halkyone eine weibliche Gestalt aus der griechischen Mythologie ist. Ihr Gemahl, König Keyx, erlitt Schiffbruch und ertrank. Als die verzweifelte Halkyone daraufhin ebenfalls sterben wollte, verwandelten die Götter beide in Eisvögel.
Halcyone, 1915, Herbert James Draper
Als Biologin möchte ich einfügen, dass es sich bei den von mir an Vierländer Gräben in Hamburgs Osten und auch am Oberlauf der Alster gesichteten bunten Vögel um Angehörige der Art Alcedo atthis gehandelt hat, der einzigen Eisvogelart, die in Mitteleuropa vorkommt.
Diesen wunderschönen Alcedo atthis habe ich aus dem Sozialkaufhaus koala-hamburg.de, Jessenstraße 6, 22767 Hamburg, dessen freundliche Betreiber*innen betonen: „Uns ist es wichtig, einen Ort zu gestalten, wo unsere Kunden nicht daran erinnert werden, dass sie mit wenig Geld auskommen müssen“. Sollte die/der Urheber*in sein oder ihr Werk erkennen, bitte unbedingt melden!
Diese beiden Eisvögel treten in VOGELPERSPEKTIVEN www.vogelperspektiven-derfilm.de auf, einem sensationellen Film von Jörg Adolph. Zitiert wird auf dieser Postkarte Arnulf Conradi, der 1944 in Ostpreußen geborene Lektor und Verleger ist passionierter Ornithologe: “Das Erlebnis, den Vogel in seiner Schönheit und Lebendigkeit wahrzunehmen, ist wie eine Senkrechte in der Zeit. In dem Moment gibt es nichts anderes, du bist ganz im Hier und Jetzt.”
Am Mittelmeer hingegen schwirrt Halcyon smyrnensis herum, benannt nach der trauernden Königin, hierzulande heißt er Braunliest, und baut während der Halkyonischen Tage, einer siebentägige Windstille, sein Nest auf der Meeresoberfläche. Sobald die kleinen Eisvögelchen geschlüpft sind, wird das Meer wieder unruhig. Wenn da mal nicht Mythos oder Magie im Spiel sind.
Braunliest (Halcyon smyrnensis)
Auch manche Menschen genießen in turbulenten Zeiten solche halkyonischen Tage. Wie ich als Bücherfanatikerin. Lasse mich noch einmal an Stecherns Kliffen vorbei treiben und fische ein so sehr schönes altes Buch heraus, von Nikolai Wassiljewitsch Gogol. Auf meinem Nachttisch liegt immer der in zartes blaues Leder gebundene Gogol-Band „Abende auf dem Vorwerke von Dikanjka“ (Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1924), im Thalia-Theater in der Gaußstraße wird „Der Wij“ von Bohdan Pankrukhin & Kirill Serebrennikov aufgeführt (ein absolutes Muss: thalia-theater.de), sie waren inspiriert durch eine Erzählung von Nikolai Gogol; die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina schreibt in ihrem mehr als 400 Seiten dicken Band „Auch wir sind Russland“, man sage nicht umsonst: „Wir stammen alle aus Gogols Mantel“; und jetzt habe ich gestern das rauhblättrige mit Holzschnitten illustrierte Buch „Der Zauberer“ von Nikolai Wassiljewitsch Gogol gefunden. Im Antiquariat Halkyone, das ich überhaupt nicht missen möchte!!!
Н._В._Гоголь_в_группе_русских_художников_в_Риме, N. W. Gogol in einer Gruppe russischer Künstler 1845
N. W. Gogol, 1840, F.Moller, Tretyakov gallery
Schluss mit Geruhsamkeit. Stecherns weit über Altona hinaus berühmtes Antiquariat namens Halkyone soll am 31. März nach 27 Jahren wegen einer Mieterhöhung schließen. Manche nennen die sogenannte freie und soziale Marktwirtschaft als „guten Grund“, andere sprechen vom Mietwucher, weil Stecherns Vermieter mal eben die Miete verdoppelt und damit den Rausschmiss erwirkt.
Auch in Stecherns Keller, den sogenannten Katakomben, stehen noch Schätze im Regal
Stecherns Sohn managet den Ausverkauf
Der Hund kann nicht lesen, Stechern kann wohlmöglich nicht bleiben und Herrchen ist herzlich traurig darüber, Fotos: Vera Stadie
Keine/r, die oder den ich kenne, findet das gut. Wir sind in Altona-Altstadt, von seinen Potenzialen her ein Viertel kürzester Wege und delikater Diversität, leidgeprüft. Und kennen auch die stadtüblichen Antworten, lese oben. Man könne nichts machen, das regle diese Wirtschaft, die bei mir inzwischen asoziale, freiheits-schönheitsberaubende Marktwirtschaft heißt. Als die Fotografin Regine Christiansen und ich als Schreiberin uns im März 2014 unter dem Motto „Perlen statt Ketten“ auf den Weg machten, gab es in Altona-Altstadt noch Paul Hundertmark, erste Adresse für Jeans, die Rahmenwerkstatt Gisela Grähn (da dampfen jetzt Pfeifen wie nur wenige Kilometer in jede beliebige Richtung), Laib & Liebe (absolutes Lieblingsrestaurant). Und der Wochenmarkt fand noch – mit Ständen im Kreis – auf dem Goetheplatz statt. Dort “musste”, dem Markt folgend, die sogenannte Bergspitze gebaut werden, ein stumpfer, rechteckiger Glasklotz, in dem mittlerweile der Leerstand in der ersten Etage als Büroflächen zur Miete angeboten wird – die zu Zeiten von anhaltendem Homeoffice… Sie wissen schon…. Besonders gewundert hat uns nicht unbedingt steinreiche Bewohner*innen von Altona-Altstadt, dass bei der Konzeption dieses Neubaus die Sozialwohnungen vergessen wurden. Von wem, das habe ich nicht vergessen, aber verrate es nicht.
Am 11. Februar 2023 fand eine Demonstration durch Altona und Ottensen statt #rettetHalkyone. Siehe Video auf youtube: https://youtu.be/9kvjx81Bsws
Als wir im November 2015 an diversen immer noch schönen Orten im Viertel aus unserem erschienenen Buch lasen und Regines schöne Bilder zeigten, wurden wir jedesmal gefragt, ob denn die Politik nichts tun könne. Inzwischen weiß ich, dass sie könne, aber nicht tut. Beispiel Lüneburg: „Reduzierung des Gewerbeleerstandes“ ist die Förderrichtlinie überschrieben: Wenn der jeweilige Eigentümer bereit ist, auf ein Drittel der Nettokaltmiete zu verzichten, übernimmt die Hansestadt das zweite Drittel. Beispiel Paris: Friederike Graef schreibt am 16. März in der taz, in ihrem Bericht übers Schließen des tollen Inhaber-geführten Schreibwarenladens Hansen im Hamburger Schanzenviertel, wer in Hamburg überleben wolle, müsse, „so scheint es, Kette oder edelexklusiv sein“ und, dass in Paris die Stadt Ladengeschäfte aufkaufe und sie weit unter Marktpreis vermiete, unter anderem an Buchhändler*innen. Tres beaux!