14 Feb

Sie kommen wegen des Wissens – Auf den Spuren der Lebensreformer

Das Reformhaus Altona gehört zu den ältesten Geschäften, die wir in unserem Buch „Hoodies, Hirschhornsalz und gute Worte – Kleine Läden an der Großen Bergstraße“ vorstellen. „ Mein Vater hatte Gicht und konnte sich kaum noch bewegen. Geholfen hat ihm die Umstellung seiner Ernährung, die hatte ihm sein Naturheilarzt empfohlen. So stieß er zur Reformbewegung“, berichtet Werner Meyer. Der Sohn des Gründers wurde schon als Kind vollwertig ernährt, hat 1960 seine Ausbildung zum Reformhausfachmann beim Vater begonnen und hatte „eine harte Lehrzeit“. Lebensreformer Meyer und seine Gesinnungsgenossen kritisierten Industrialisierung und Materialismus, entwarfen Visionen und Utopien für eine Erneuerung der Gesellschaft.

Einzehändler in der Großne Bergstraße 199, Reformhaus Altona, Inhaberin Sabine Karow ,Hamburg

Foto: Eigentum Sabine Karow

Die Anhänger der Reformbewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem von Deutschland ausging, befürchteten, dass die moderne Gesellschaft zu Zivilisationskrankheiten führen würde. Industriell gefertigte Kost sahen sie als Ursache vieler Krankheiten an, lehnten Zucker, Weißmehl, Konserven und Fertigprodukte ab und setzten auf die Anregung der Selbstheilungskräfte, eine grundlegende Ernährungsreform. 1900 eröffnete das erste Reformhaus in Wuppertal. Erstmals gab es Müsli und Pflanzensäfte zu kaufen. Der Vegetarismus kam auf. Auch Vater Meyer wollte, als er 1930 seinen Laden in Altona eröffnete, weg von den tierischen Fetten. Er verkaufte die damals neuartige Pflanzenmargarine Vitaquell zum Vollkornbrot. Getreide, Gemüse und Obst bezogen die Meyers direkt von den Bauern, vom Hof Hörsten, einem der ersten Biobetriebe in der Region. Pionier sei sein Vater auch in Sachen Naturkosmetik gewesen, berichtet der ehemalige Junior. Für solche Produkte musste man damals in Hamburg ziemlich lange Straßenbahn fahren…

Der Laden an der Großen Bergstraße hat also seine Wurzeln in der Lebensreformbewegung. Heute sprießt er unter der Leitung von Sabine Karow sozusagen in den Veganerhimmel. Es gebe kaum noch inhabergeführte Reformhäuser, erzählt Karow, die das Geschäft zusammen mit ihrer Schwester Sonja betreibt. Die Bank habe damals gesagt: „Das lohnt sich nicht!“ Aber sie hat nie bereut, dass sie das Geschäft 2009 von ihrem ehemaligen Chef übernommen hat, hat mehr Platz geschaffen, neu eingerichtet, das Sortiment verändert und erweitert. Als der Supermarkt gegenüber eröffnete, haben die Schwestern Obst und Käse aus dem Sortiment genommen. Und sie kommen den Veganern entgegen, auch wenn sie am Anfang veganes Virginia Steak und vegane Entenbrust „gewöhnungsbedürftig“ fanden. Die Inhaberin erzählt von Trends wie veganer Kosmetik, die kein Bienenwachs enthält, B-Vitaminen, Eisen, Weizeneiweiß, Saitan, Smoothies, Matcha – so etwas schätzen ihre jungen Kunden wie der Bauwagenbewohner in Schottenrock und Springerstiefeln. Sie empfiehlt ihm basischen Frühstücksbrei und dazu etwas aus dem leckeren Sortiment der im Reformhaus selbst abgefüllten Trockenfrüchte, vorher eingeweicht. Da isst er dann auf den Spuren der Lebensreformer. Wenn Pensionär Meyer vorbei schaut, entdeckt er auch Dauerbrenner: Weizenkeime, Leinsamen, Müsli und die Produkte von Eden, einer Firma aus den Anfängen der Reformbewegung.

Was hat das Reformhaus, was Bioläden nicht haben? Bestimmte medizinische Artikel, frei verkäufliche Arzneien, Lebensmittel für besondere Ernährungsformen. Sabine Karow berät den ganzen Tag und weiß: „Die Kunden kommen wegen des Wissens“. Auf Grund der Reformen im Gesundheitswesen müssten sie mehr Heilmittel aus eigener Tasche bezahlen und würden sich sagen: „Dann nehme ich doch das, was ich mir selbst aussuche“. Im Vorfrühling 2016 lohnt der Weg in die Große Bergstraße, wenn man seine Selbstheilungskräfte mit Petersilien- oder Löwenzahnsaft, Brennnessel- oder Salbeitee anregen möchte. Im Erdgeschoss gibt es lose vieles von Anis bis Zinnkraut zu kaufen und dazu wie seit eh und je fachkundige Beratung, im Keller steht noch Meyers Herbar, eine Pflanzensammlung. Heilkräuter haben im Reformhaus Altona eben eine mehr als 80-jährige Tradition.