08 Nov

Der karierte Koffer fährt ins Kurland

Historische Landschaften am Mare Balticum

Da reißt dem karierten Koffer der Griff, am Tag der Abreise, mitten auf dem Hamburger Hauptbahnhof. Seine Trägerin balanciert ihn zum Kai in Lübeck-Travemünde, wo am 12. Juni 2017 ein älterer schöner Dampfer ablegt. Die in London gebaute „Stena Nordica” schaukelt das etwa gleichaltrige Gepäckstück, ein Dutzend Fernfahrer und deren Trucks an Polen und Bornholm vorbei. Der karierte Koffer liegt in der Koje. Seine Trägerin lässt Sorgen, Vorurteile, Bedenken und Erwartungen ins Mare Balticum fallen und erfreut sich erleichtert an einer Seereise, die so gar nichts von einer Kreuzfahrt hat. Das Reisetagebuch füllt sich:

Am nächsten Tag legt die „Stena Nordica“ in Liepaja an. Libau heißt die Hafenstadt zur Kinderzeit der Großmutter: “Die Sophie, der Christoph und ich, wir sind alle drei in Schmucken bei Neuenburg im Kurland geboren“, so beginnt ihr Lebensbericht. Kurland, die Kindheitsheimat der drei Geschwister, ist eine historische Landschaft, sie liegt im Westen des heutigen Lettlands südwestlich des Flusses Düna (lettisch: Daugava) mit wilden Wäldern, sehr langen Sandstränden, dem Rigaeschen Meerbusen, viel freier Ostsee, den Häfen Windau (lettisch: Ventspils) und Libau und großen Privatgütern. Eines davon ist das Gut Schmucken. Als Maria Poetschke 1900 dort geboren wird, betreibt ihr Vater eine Mühle und Wolldockerei. Sein Betrieb, in dem Getreide gemahlen, und Wolle gebündelt (gedockt) wird, gehört zum Gut derer von der Recke, einer deutschbaltischen Adelsfamilie.

 

Meister und Mimosen oder Gott gab Zähne

Die Deutschbalten geben im Kurland ab dem späten 12. Jahrhundert den Ton an und haben dort auch noch 700 Jahre später großen Einfluss, unter anderem auf die Sprache. Anfang des 20. Jahrhunderts ist das Gouvernement Kurland russisch, die Amtssprache Deutsch. Offiziell heißt ein deutschsprachiger Untertan des Zaren Deutschrusse. Zur Zeit des Nationalsozialismus nennen sich manche von ihnen – analog zu Volksdeutschen und Sudetendeutschen – dann Baltendeutsche, aber dass die eingewanderte Oberschicht sich überhaupt  baltisch nennt, ist “völkerkundlich” nicht ganz korrekt. Die Ethnologen leiten den Begriff Balten von der Ostsee ab, dem Mare Balticum, und verwenden ihn für Völker, die baltisch sprechen: die Kuren, Semgallen, Lettgallen, Litauer, Prußen (siehe Karte unten und „Der karierte Koffer fährt nach Klein Baum“) und Letten. Die baltischen Sprachen sind bis auf das Lettische und das Litauische ausgestorben, allerdings möchte in Hamburg eine sangesfreudige Kofferträgerin prußisches Liedgut wiederbeleben. Wie die anderen baltischen Sprachen geht auch das Prußische auf die Ursprache Sanskrit zurück.

Von Baltic_Tribes_c_1200.svg: en:user:MapMasterderivative work: NNW (talk) – Baltic_Tribes_c_1200.svg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11714963

„Gott gab Zähne, Gott wird Brot geben“, heißt es auf Deutsch; „Dievas dave dantis; Dievas duos duonos“ auf Litauisch; „Devos adadat datas; Devas dat (oder dadat) dhanas“ auf Sanskrit. Diese Ursprache hört die Kofferträgerin in den 1970er-Jahren, als sie für die Jünger*innen von Maharishi Mahesh Yogi kocht. Nach der Küchenarbeit lauscht man den Veden, mündlichen Überlieferungen des Hinduismus aus der Zeit um 1200 v. Chr.. Die “Sanskrit-Shortstorys” sagen mancher Küchenhilfe mehr zu als der hinduistische Meister und seine nach Mimosen – des Gurus Lieblingsaroma – duftenden, weiß gewandeten Anhänger*innen.

Das Wappen der Familie Poetschke stammt aus dem Rheinland, wo das Geschlecht schon seit dem 14. Jahrhundert sesshaft war.

Familiär gibt es keine Sprachprobleme, Urgroßvater August Poetschke, 1860 auf dem Rittergut Neuenburg in Kurland geboren, ist Protestant, Müllermeister und Reichsdeutscher – in dieser Reihenfolge. Bewegungen und Regungen wie die der sogenannten Reichsbürger im 21. Jahrhundert liegen in ferner Zukunft, als der reichsdeutsche Müllermeister voll Stolz “dem Kaiser dient”, nämlich Wilhelm II. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges, an dem Deutsche und Russen als Gegner beteiligt sind, wird er als einer der ersten abgeholt und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Damit endet Marias kurländische Kindheit. Hundert Jahre später befasst sich Enkelin Vera, deren russischen Namen die Oma ausgewählt hat, mit einer Ritterburg aus dem 14. Jahrhundert.

Bild: Julian Nitzsche, CC-BY-SA 3.0

Heute gehört das Anwesen der Stadt Jaunpils (Neuenburg) und heißt Jaunpils pils – pils ist das lettische Wort für Burg.

 

Ein fürchterliches Schloss oder Das Schickliche

Ritterburg oder Schloss? Jedenfalls residiert dort von 1576 bis 1920 die Familie von der Recke. Elisabeth Charlotte Constanzia, kurz Elisa, heiratet ein und nennt es „ein großes, fürchterliches Schloss“. In einem Brief an ihre Schwester, die Herzogin Dorothea von Kurland, schreibt sie: „…es hat sehr dicke, dicke Mauern, acht Personen können in einem Fenster sitzen. Aber die Gegend ist sehr schön und das Schloss ist fast mit Wasser umgeben.“ Den Kammerherrn Georg Magnus von der Recke auf Neuenburg hat sie „aus Standesgründen” geheiratet. Im Gegensatz zur Neigungsheirat spricht man in so einem Fall von einer Konvenienzehe. An „bequemes Essen”, Convenience Food, erinnert das Wort Konvenienz; es bedeutet nicht nur Annehmlichkeit, sondern auch Anpassung an das Erlaubte und das „durch Herkommen als schicklich Festgesetzte und die Rücksicht auf das Zusammenpassende”. Die regiert auch noch 200 Jahre später in Westdeutschland: Beim Treffen der Deutschbalten bekommen nur die Frauen „von und zu“ einen Handkuss und Mutter fragt die Tochter nach Verhältnissen, Rang und Vermögen des Partyflirts: “Was macht der Vater?” Sie wollen alle nur das Beste. Elisas Ehe wird 1781 geschieden. Sie bereist Europa, pflegt Kontakte zu Klopstock, Claudius, Kant, Goethe, Schiller – und Beethoven. Beethovens Schreibweise des Namens „Elisa“ in seinem Brief an von der Recke vom Oktober 1811 sieht aus wie die Widmung „Für Elise“ in dessen Schrift. Damit ist sie eine von mehreren „Verdächtigen“, denen er sein berühmtes Klavierstück gewidmet haben mag.

Die geschiedene Adelige betreut 13 Pflegetöchter, betätigt sich als Diplomatin und Dichterin. Letzteres schätzt auch Katharina die Große (siehe „Der karierte Koffer fährt nach Kasachstan“). Die Zarin bewundert von der Reckes Streitschrift über einen ihrer Verehrer, den Hochstapler Cagliostro, und gewährt der aufklärerischen Autorin lebenslange Zuwendungen.

Elisa von der Recke, porträtiert von Anton Graff, 1797

 

In Elisas Schreibzimmer auf Schloss Neuenburg kann man heute absteigen. Der ovale Raum mit dem weißem Kachelofen soll der sonnigste und ungewöhnlichste im ganzen Gebäude sein.

 

Ein sehr kleines Volk oder Topographische Nachrichten

Nicht nur im Kurland stellen die Deutschen die Adel und Bürgertum und stellen Balten als Personal ein. Seit dem späten 12. Jahrhundert herrschen sie über das gesamte Gebiet des heutigen Lettland und Estland. Sie nennen es Livland. Der Name stammt von den Liven, mit denen hat es der Deutschorden zu Beginn der Christianisierung zu tun. Zu den Kreuzfahrern cruisen wir später, bleiben wir beim finno-ugrischen Fischervolk. Seit rund 5000 Jahren betreiben die Liven Ostseefischerei, was ihnen die Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg verbieten, da sie befürchten, die livischen Fischer könnten über die Ostsee ins benachbarte Skandinavien fliehen. Heute nennt sich Lettland in seiner Verfassung das gibt das Land der Letten und der Liven. Stolz und trotzig mutet das an, denn mit etwa 230 Angehörigen sind die Liven nahezu ausgestorben und nur noch rund 20 Personen beherrschen die finno-ugrische Sprache Livisch. An Lettlands Nordspitze um Domesnäs/Kap Kolka lebt also eines der kleinsten Völker der Welt, und auch die Landschaft Livland ist geschrumpft. „Liefland verdient eben so gut, als manche andre Länder, eine nähere und richtigere Bekanntmachung, nachdem man sich lange genug mit unvollständigen und fehlerhaften Nachrichten hat behelfen müssen“, heißt es in “Topographischen Nachrichten” aus dem 18. Jahrhundert, wobei unklar bleibt, wer welche Fehler macht. Livland (Vidzeme) gehört wie Kurland (Kurzeme) zu den historischen Landschaften im Baltikum. Und ist heiß begehrt. 1942 beschwört in “Deutsche Lande/Deutsche Kunst” Niels von Holst “den alten Reichsboden des Baltenlandes” und “das Gebiet des alten Ordenslandes Livland”. Topografisch fehlerfrei umfasst das heutige Livland die Gegend nördlich von Riga bis zum Peipussee, die lettische Region Vidzeme, und die Südhälfte Estlands. Oft wird auch nur Vidzeme mit Livland gleichgesetzt, was einer nochmaligen Verengung entspricht.

 

Marienlieder in der Wildnis oder Die Aufsegelung

Der nach den Liven benannte Orden gehört zum Deutschen Orden, auch Deutschorden, Deutschherrenorden oder Deutschritterorden oder Deutscher Schwertbrüderorden genannt. Sein vollständiger Name lautet “Orden der Brüder vom Deutschen Hospital Sankt Mariens in Jerusalem” und seine Ursprünge liegen in einem Feldhospital, das Kaufleute aus Bremen und Lübeck im 12. Jahrhundert im Heiligen Land gründeten. Als Heiliges Land wird das heutige südwestliche Syrien und Palästina bezeichnet. In der Zeit der Kreuzzüge werden die Ritterorden dort zum Schutz, zum Geleit und zur Pflege der Pilger und zur Verteidigung der heiligen Stätten der Christen gegen den Islam gegründet. Später beteiligen sich Mitglieder dieser ursprünglich eher karitativen Gemeinschaft maßgeblich an der deutschen Ostkolonisation, dabei spielt der Ende des 13. Jahrhunderts gegründete Deutschordensstaat Livland eine wichtige Rolle. Die Kreuzzüge haben den päpstlichen Segen. Für die Christianisierung der Bevölkerung verspricht die Kurie den Kreuzrittern Land im unterworfenen Gebiet. Viele von ihnen sind Adelige, deren heimische Besitztümer keine ausreichende Existenzgrundlage darstellen. In Günther Elbins Geschichte über „Kurländische Amazonen“ heißt es beispielsweise: „Wie nahezu alle baltischen Adelsfamilien, stammten auch die Medem von den überzähligen Sprößlingen rheinischer, westfälischer und niedersächsischer Rittergeschlechter ab, die um das Jahr 1200 nach Ostland geritten waren. Voll missionarischen Eifers, kolonisatorischem Wagemuts und mit Hunger auf Neuland waren sie – Marienlieder auf den Lippen, das Schwert in der Faust – in die unerschlossenen Wildnisse am fernen Strand der Ostsee gekommen. Sie unterwarfen die Esten, Letten, Liven, Wenden, Kuren und Semgaller, bekehrten sie gewaltsam zum Christentum, bauten Burgen, rodeten Wälder, legten Äcker an, brachten den Ureinwohnern Viehzucht und Ackerbau westlichen Musters bei und errichteten einen Ordensstaat, der bald von der Weichsel bis zum Peipussee reichte.“

In ihrer anschaulichen Broschüre “Verlorene Heimat Riga – Deutsches Baltikum 1200 – 1939” schreibt die in Riga geborene Ivy Lohff auch von der “Aufsegelung Livlands”.

Zum Glück ist die Kofferträgerin Kofferträgerin und keine Historikerin, denn die „geschichtswissenschaftliche Rezeption“, die Erforschung und Interpretation der Ordensgeschichte ist stark national geprägt, erfolgt in Deutschland, Polen und Russland extrem unterschiedlich und ist insgesamt von vielen Widersprüchen begleitet. Es kommt immer auf den Standort, pardon Standpunkt, an und bleibt interessant. So beginnt 1963 im Buch „Baltikum“ der Autor Erik Thomson seinen „Bericht über die Geschichte des baltischen Landes“ mit „jenem Ereignis, das dieses Land an den östlichen Gestaden der Ostsee, des Baltischen Meeres, in das Blickfeld des zentraleuropäischen Abendlandes gerückt hat”, der Aufsegelung des Landes durch Fernkaufleute aus dem niederdeutschen Raum und durch den Orden. Er kritisiert die „östlich bestimmte Geschichtsschreibung“, die sich bemühe, ein möglichst enges und freundschaftliches Verhältnis zwischen den im baltischen Raum siedelnden Stämmen und deren slawischen Nachbarn im Osten „uns glaubhaft zu machen“.

 

Ankomme mit kaputtem Koffer oder Drang nach Osten

In diesem antiquarischen Bildband von 1963 begegnet die Bücherfreundin und Kofferträgerin dem „Drang nach Osten“, von dem auch der mongolische Smartphone-Spezialist in Moskau gerne spricht (siehe: „Der karierte Koffer fährt nach Krasnojarsk“), und dem Drang in die entgegengesetzte Richtung, den man anderen vorwirft, zum Beispiel jenen „russischen Teilfürsten …, die einem ihnen innewohnenden uralten Drang nach dem Westen gemäß – dem wir mit Fug und Recht den uns vorgeworfenen „Drang nach dem Osten“ entgegensetzen dürfen“.

Auch der karierte Koffer wird „Opfer“ dieses Dranges, des inneren und ganz und gar friedlichen Dranges seiner Trägerin. An deren Geburtstag, dem 13. Juni 2017, wird er bei strömendem Regen in einen Kofferraum geworfen. Das Taxi hat Swetlana gerufen. Die hilfsbereite Stena-Stewardess, die mit kichernd-froher Stimme zu jeder Mahlzeit an Bord lockt, ist die erste der erfreulichen Begegnungen auf dieser Reise. Nummer zwei ist der ebenfalls nette Lette auf dem Weg zur Mittsommerfeier, dem freudvollen Pflichtprogramm. Ihr sehr altes Bauernhaus hat seine Familie verkauft und ihm sagt der Spruch zu: “Reichtum liegt weniger im Eigentum als im Gebrauch”. Die dritte ist Gerda. Sie genießt als eine der wenigen Passagierinnen ohne Lastwagen die Aussicht auf die Ostsee, hat gerade ihr Unternehmen dem Sohn übergeben und besucht ein lettisches Patenkind; Nummer vier ist Heiko, er teilt das Taxi. Seine Nachbarin ist Lettin und hat ihm ihr Land empfohlen, er wollte “Schiff fahren”. Der karierte Koffer hat seine erste Schiffsreise hinter sich und wird durch die Rigas iela kutschiert, Anfang des 20. Jahrhunderts als Libaus prachtvolle Bahnhofsstraße von einem Berliner Architekten geplant. Wie sie zu Großmutters Teeniezeit zwischen 1911 und 1919 aussieht, ist auf historischen Fotos am Bahnhof von Liepaja zu sehen. Züge fahren hier nur noch selten, der Bus ist daher das angesagte Transportmittel. Erstmal gibt es eine Kohl-gefüllte Teigtasche. Kohl heißt auf lettisch caput, da weiß die Biologin mit Grundkenntnissen in Bau und Funktion des menschlichen Körpers (Caput = Kopf) Bescheid: Lecker, nahrhaft, vegetarisch.

 

Vom langsamen Erfreuen oder Der Kongress badet

Im Linienbus bekommt der karierte Koffer ein Ticket für 1,70 €. Seine Trägerin sitzt in der ersten Reihe neben einem Geschwindigkeits-verliebten jungen Gamer und liest auf dem Bildschirm überm Fahrer: “Latvia – Best enjoyed slowly”. Der entschleunigende Tripp für vier Euro (so viel an dieser Stelle zum Thema “Öffies”, Weiteres folgt) führt durchs Land mit der europaweit geringsten Verkehrsdichte. Fast die Hälfte ist mit Wald bedeckt, in der gesunden Mischung aus Wald, Moor, Sumpf, Wiesen und Auen treiben sich so seltene Tierarten wie Schwarzstorch und Schreiadler herum. Es gibt ein riesiges Netzwerk von freifließenden Flüssen, tausende von Seen. Die riechen, schmecken, fühlen sich an und sehen aus, wie es sich gehört. Das stellen 1988 die kritischen Naturschützer fest, die auf Einladung einer lettischen Umweltorganisation angereist sind, als es heißt: Der Kongress badet. “So muss ein See sein”, denkt eine von ihnen, die Kofferträgerin, seinerzeit noch ohne Koffer. Insgesamt ist Lettland mit 27.000 Tier- und Pflanzenarten in relativ ungestörten Lebensräumen ein Paradies für die internationale Gemeinde der Birdwatcher und einer der wertvollsten Horte der Artenvielfalt in Europa. Auf der Busfahrt folgt aufs ausgedehnte Feuchtgebiet an der Westküste eine sumpfige Niederung mit Flüsschen und Seen. Die Störche finden reichlich Futter, ihre Nester sind voll Jungvolk. Hier und da leuchtet ein in kräftiger Farbe gestrichenes Holzhaus, in Gärten und auf kleinen Feldern wird für den Eigenbedarf angebaut. Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem EU-Beitritt 2004 hat mehr in der Hauptstadt stattgefunden als auf dem Land. Nach einer Weile wird es trockener, geht leicht bergauf über sanfte Hügel durch ein Mittsommermärchen aus blühenden Wiesen, die sich zwischen Kiefern, Lärchen und Birken ausbreiten, und dann wieder leicht bergab in die Venta-Ebene. In Skrunda beim Überqueren der Venta – sie hieß in der Jugendzeit der späteren Großmutter Windau und ist Kurlands Hauptfluss und auf dieser Reise “Fluss Nummer eins” – steigen die Achtziger auf.

 

Pipeline namens Freundschaft oder Verteidigung der Umwelt

In den 1980er-Jahren entstehen erste Kontakte zwischen Umweltverbänden und Naturschützer*innen in Ost und West. 1988 trifft man sich auf Initiative der “Aktionskonferenz Nordsee” (Bremen) und des lettischen „Clubs zur Verteidigung der Umwelt“ (Vides Aizsardzíbas Klubs, VAK) im Kurland. Den aus Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, Polen und Deutschland angereisten Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen von Bürgerbewegungen geht es um die Ostsee. Sie lernen von ihren Gastgebern, dass die Hafenstadt Ventspils (deutsch: Windau), wo die Venta westlich der Bucht von Riga mündet, durch katastrophale Umweltbedingungen schockiert.

Schon im 16. Jahrhundert beheimatet die kurländische Hafenstadt Windau eine der größten europäischen Handelsflotten. Später ermöglicht das künstlich verbreiterte Flussbett es auch großen Tankern, diesen eisfreien Ostseehafen zu nutzen. Hier befindet sich seit der Industrialisierung einer der wichtigsten sowjetischen Umschlagorte für Chemikalien, Kohle und Öl. 1961 wird eine Pipeline namens Druschba (Russisch: Freundschaft) errichtet, riesige Mengen Öl aus Sibirien kommen in Ventspils an und werden in den Westen verschifft. Beim Verladen oder durch Lecks gelangen unbekannte Mengen Öl und Chemikalien in die Ostsee, verseuchen das Wasser und lagern sich am Meeresboden ab. Die Teilnehmer der ersten internationalen NGO-Ostseekonferenz sehen einen erschütternden Filmbericht über vermutlich durch Schadstoffe verursachte Missbildungen bei Neugeborenen. Heute investiert man in Umweltstandards, Ventspils ist eine der wohlhabendsten Städte Lettlands und der wirtschaftliche Erfolg des Ölhafens zieht Investoren an. Neben russischen Großkonzernen meldet auch Kasachstan Interesse an, mit der Überlegung, kasachisches Öl über Ventspils nach Europa zu exportieren.

 

Schnell zur See oder Zauber der kurischen Marktfrau

Zurück an den Fluss. Zwischen Ventspils und Skrunda passiert er Kuldiga. Die Kleinstadt verdankt ihre Entstehung der Venta, die hier über den flachen, aber mit knapp 250 Metern möglicherweise breitesten Wasserfall Europas fällt. Für Schiffe ist kein Durchkommen mehr. Die Stromschnellen sind daher von alters her ein beliebter Wirtschaftsstandort. Bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. siedeln sich hier Jäger und Fischer an, im frühen Mittelalter entsteht eine Befestigungsanlage der Kuren. Über die Kuren gibt es viel zu erzählen. Ihr Name leitet sich vom indoeuropäischen „krs“ ab und bedeutet „schnell beweglich (auf See)“, sie gehören zu den letzten Heiden Europas, sozuschreiben zu den nordosteuropäischen Ureinwohnern. Ihre Siedlungsgebiete umfassen die heutigen Orte Klaipėda, Palanga, Liepāja, Ventspils, das nordwestliche Litauen, das Memelland nördlich der Minge, weite Teile des heutigen Nord-Žemaiten, Teile des Festlandes am Kurischen Haff sowie die gesamte Kurische Nehrung. Auf diesem auch durch die Familie Mann berühmten Sandstreifen, der Haff und Meer trennt, erkundet  Marlene 2006 das „Weitwinkelland“ ihres Großvaters (siehe “Der karierte Koffer fährt nach Klein Baum”).

Heidnisches kurisches Grabmal für eine geliebte Frau

Im ehemals kurischen Nidden begegnen Tochter und Mutter Perkunos, dem Gott des Donners, Sonnenscheins und Regens, aus Bernstein geschnitzt, Bangputis, der die Wellen des Meeres und der See bewegt, und auch Giltine, die den qualvollen Tod bringt. Die hölzernen Grabstelen adem Gott des Donners, Sonnenscheins und Regens, aus Bernstein geschnitzt, Bangputis, der die Wellen des Meeres und der See bewegt, und auch Giltine, die den qualvollen Tod bringt. Die hölzernen Grabstelen auf dem Friedhof zeigen die Gestalt der Kröte, Symbol für die Erdgöttin und ihre lebensspendenden Kräfte. Daneben werden Vögel dargestellt, aber auch Blumen, Schlangen, Bäume und Himmelszeichen. Bis in die Neuzeit widersteht das Volk der Kuren der Christianisierung. Als die heidnische Symbolik verboten wird, reichert man die Grabmale auf dem alten Friedhof von Nidden mit Kreuzen und anderen christlichen Zeichen an und erreicht auf diese Weise, dass sie nicht zerstört werden müssen. Und im alten Ostpreußen – auch das eine historische Landschaft, nämlich die namensgebende Provinz des Staates Preußen und das ursprüngliche Stammland der baltischen Prußen, davon anderswo – kursiert so manche Redensart über die kurischen Nachbarn. Betrunkene bezeichnen sich als „von Kuren verhext“, stürmisches Wetter wird „kurisches Wetter“ genannt, „Kurischer Kaffee“ ist Warmbier mit Schnaps. Keine Königsbergerin legt sich gerne mit einer kurischen Marktfrau an, da sie fürchtet, von ihr verflucht zu werden. Es heißt auch, dass Kuren, wenn sie ihre Marktstände kurz verlassen, diese mit einem einzigen Hexenblick derart sichern, dass ein Dieb so lange angewurzelt stehenbleibt, bis der Besitzer zurückkehrt.

 

Kaperfahrten und andere Handelsbeziehungen

Die Geschichte der Kuren lässt sich – unter anderem in nordischen Sagas – etwa bis in das 7. Jahrhundert zurückverfolgen. Gemeinsam mit den Prußen (siehe “Der karierte Koffer fährt nach Klein Baum”) haben sie zu dieser Zeit eine führende Rolle unter den baltischen Stämmen. Als  Bischof Ansgar von Bremen 850 Schweden besucht, erleiden, wie er berichtet, die Dänen im Kurland gerade eine vernichtende Niederlage. Rimbert  schreibt über die Kuren (die er Chori nennt), dass sie von den Schweden unterworfen waren aber das Joch bereits lange abgeschüttelt haben und Saxo Grammaticus berichtet von Angriffen auf Kurland, die zwischen 866 und 894 erfolgen. Die isländische Egilssaga enthält eine Schilderung über den Lebensstandard der Kuren zu Beginn des 10. Jahrhunderts als die Wikinger Thorolf und Egil Kurland verheeren.  Die nordischen Beutezüge stoßen im Kurland auf starken Widerstand und die Skandinavier wenden sich in der Folgezeit anderen Landstrichen zu. In den folgenden Jahrhunderten werden eher Handelsbeziehungen aufgebaut und beibehalten, sofern die Wikinger sie nicht durch Kaperfahrten unterbrechen oder die Kuren zuschlagen. Chroniken des 13. Jahrhunderts berichten, dass die Kuren mehrmals Gebiete in Dänemark und Schweden plündern.

 

Die Kette mit dem hellen Bernstein – er enthält besonders viel Luft – hat ein Künstler aus Nidden nach uraltem Vorbild geschaffen.

Zurück zu den kurischen Händlern an den Stromschnellen der Venta. Dort liegt im 11. und 12. Jahrhundert das größte Handels- und Kulturzentrum der Kuren. Seit 1300 vor Christus handeln die baltischen Völker mit Pelzen, Honig und Getreide und liefern Bernstein nicht nur an die benachbarten Slawen und Wikinger, sondern auch über den Mittelmeerraum bis nach Arabien. Das „baltische Gold“ ist versteinertes Harz von vorzeitlichen Nadelbäumen. Sie sind mit der Gemeinen Fichte (Picea abies), auch Gewöhnliche Fichte, Rotfichte oder Rottanne genannt, verwandt. Im Spülsaum der Ostseestrände – Tipp: Nach einem landwärts wehendem Sturm mit Stöckern in den angeschwemmten Algenknäuel stochern –  findet man auch heute noch das versteinerte Fichtenharz. Man kann es als Schmuck, Amulett, Heilmittel oder wohlriechendes Räucherwerk verwenden. Die Kofferträgerin trägt auf Reisen den Koffer – und auch eine Bernsteinkette. Man kann ja nie wissen… Immer ist der Bernstein nach Auskunft einer deutsch-russisch-samländischen Freundin (siehe „Der karierte Koffer fährt nach Klein Baum“) heilsam und verbindet mit den Vorfahren.

 

Kurländische Amazone oder Der herrlichste Hals der Welt

Im 13. Jahrhundert rät Adam von Bremen Christen, die kurländische Küste zu meiden. Das tun sie aber nicht. Zwischen 1226 und 1230 tauchen die Ordensritter auf. Diesmal haben die Kuren einen vom christlichen Europa unterstützten mächtigen Gegner. An der Venta unternimmt Ordensmeister Dietrich von Grüningen einen Kriegs- beziehungsweise Kreuzzug und errichtet an den Stromschnellen seine Burg. Die heißt zunächst Jesusburg, später Goldingen. Dort bekommen unter dem Schutz der bewaffneten Kreuzfahrer norddeutsche Kaufleute ihren Standort, der entwickelt sich wieder zu einem regen Handelsplatz und wird 1378 Hansestadt. In der Folge gestalten niederdeutsche Kaufleute und Missionare das Städtchen. Während das Lettische die Sprache der Landbevölkerung ist – sie besteht aus Kuren, die nach der gewaltsamen Unterwerfung allmählich in den Letten aufgehen, und arbeitet vorwiegend unter deutscher Adelsherrschaft – ist vom Mittelalter bis weit ins 20. Jahrhundert Deutsch die Sprache der städtischen Oberschicht. Goldingens Stadtbürger, die Pastoren, die Ärzte und andere Gebildete, sind größtenteils Deutschbalten. Im 15. Jahrhundert wird ihre Stadt sozusagen „geadelt“, denn ein Teil des livländischen Ordensstaates wird säkularisiert, die kirchlichen Institutionen der Ordensritter werden aufgehoben und ihre Besitztümer verstaatlicht. Der letzte Deutschordensmeister Gotthard Kettler wandelt 1562 Kurland in ein Herzogtum um. Goldingen wird sein Herzogssitz. Ab 1642 herrscht hier Kettlers Enkel Jakob und betreibt in seinem kleinen Land effektive Wirtschaftspolitik. Zu den Innovationen zählen Schmiedewerkstätten, Glashütten, Salpeter- und Seifensiedereien, Papiermühlen, Tuchfabriken und die erste Schiffswerft. Während seiner Regierungszeit werden mehr als 150 Schiffe gebaut. Herzog Jakob Kettler führt von Goldingen aus Kurland zur wirtschaftlichen Blüte. Wie schon seine kurischen Vorgänger sucht er Handelsbeziehungen nicht nur zu den direkten Nachbarn. Allerdings strebt er weiter in die Ferne als die Kuren. Kurland wird kurzfristig zur kleinsten Kolonialmacht Europas. Der Herzog lässt auf der Karibikinsel Tobago und im westafrikanischen Gambia kurländische Kolonien anlegen. Sein Sohn verkauft später Tobago an britische Kolonisten, um seine kostspielige Hofhaltung zu finanzieren. Rund hundert Jahre später betritt Dorothea von Kurland das Goldinger Parkett. Auf Grund ihrer Klugheit und Schönheit sei die Herzogin in ganz Europa berühmt gewesen, unter anderem bei Kant, Mendelssohn und Goethe und dem „Alten Fritz“, die ihre „herrliche Gestalt, mit allen übrigen Reizen verbunden“, bewundert hätten, schreibt Günther Elbin im Band „Große Damen aus der Welt von gestern“.

Anna Charlotte Dorothea von Biron, Herzogin von Kurland und Semgallen und Sagan, als junge Frau

Die spätere „kurländische Amazone“, wie Elbin sie nennt, wird 1761 als Gräfin Anna Charlotte Dorothea von Medem geboren und im Alter von 18 Jahren mit Peter von Biron vermählt. Der 37 Jahre ältere Herzog von Kurland und Semgallen heiratet damit eine Tochter aus „gutem Hause“, aus altem kurländischen Adel, aus einer der ältesten, vornehmsten und wohlhabendsten Familien des ehemaligen Ordensritterlandes. Seine junge Frau wird zur Ersten Dame Kurlands, und zur elegantesten, wie es heißt. Da schließen sich die (Adels-)Kreise: Nachdem der Herzog ihr bei der Vermählung viertausend Taler „Nadelgeld“ jährlich zugesprochen hat, schreibt Dorothea von Kurland an ihre ältere Schwester, die Schriftstellerin Elisa von der Recke: „Wie will ich nun wirken, wie will ich helfen, wo Hilfe nötig ist! …Der Verdienst ist nur klein, wenn man bloß die Hand auszustrecken braucht. Ich habe ja noch kein eigenes Opfer gebracht.“ Auch für sie liegt wohl der Reichtum im Gebrauch. Kein Problem, denn hinter ihr steht ein Wohlstand, von dem es damals heißt, er überträfe „selbst noch den legendärer hungarischer Magnaten“. Den Grund dafür legt der Schwiegervater, der Volkswirt Ernst Johann Biron, als sich das im Nordischen Krieg verwüstete Kurland unter seiner Verwaltung so gut erholt, dass man fortan vom reichen „Gottesländchen“ spricht, was allerdings auch auf die fruchtbare Erde und den Fischreichtum zurückzuführen sein soll. Als Sohn Peter den Herzogstuhl in Goldingen besteigt, gehört seine Familie zu den reichsten Europas und seine Frau und hat Zugang zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Zar Alexander I. von Russland, Friedrich Wilhelm III., Napoleon I., Talleyrand, Metternich, Goethe und Schiller kennt die Herzogin von Kurland persönlich. Mehrmals ist sie viele Monate in diplomatischer Mission in Warschau, unternimmt aber auch Reisen nach Berlin, Sankt Petersburg und Karlsbad. Es ergibt sich eine Entfremdung zum Herzog. Ab 1793 lebt Dorothea von Kurland überwiegend in Berlin und führt dort einen Salon. Im kommenden Jahr lässt sie im thüringischen Löbichau ein Schloss errichten und lädt Dichter, Philosophen, Verwandte und Freunde ein. Auch Elisa von der Recke hält sich mehrmals im „Musenhof“ der Herzogin auf. Stiefschwester Dorothea nimmt sich neben all den gesellschaftlichen Verpflichtungen und Vergnügungen Zeit für ihre „Amazonenkarriere“ – zum Reiten. Ein Herr von Lyncker beschreibt, wie der Anblick der vorübergaloppierenden Amazone auf Reeders- und Kaufmannsgattinnen gewirkt hat: „Da keine von diesen Damen je zu Pferde gesessen,…,erwarteten sie jeden Moment, dass die Duchesse de Courlande sich den herrlichsten Hals der Welt brechen müsste. Doch die sichere Frau tat ihnen den Gefallen nicht. Ohne die gaffende Menge wahrzunehmen, und nur hin und wieder nickend, wenn die Zucker-, Zimt- und Pfeffersäcke sich allerdevotest in den Staub verneigten, strebte sie an ihnen vorbei in reinere Gefilde.“

Die Herzogin von Kurland mit ihren Töchtern Wilhelmine und Pauline. Im Hintergrund sieht man den Hermelinmantel und die zugehörige Kopfbedeckung.

 

Heimatsand in Schachteln oder Wurzeln im Gestern

Zurück nach Goldingen. An seiner Geschichte lassen sich Umwälzungen im Leben der Letten, der Deutschbalten, später auch der Russen ablesen. Im ausgehenden Mittelalter gerät es unter die Herrschaft des polnischen Königs Sigismund. Sein “Privilegium” garantiert der deutschen Oberschicht unter anderem die deutsche Sprache, deutsches Recht, die evangelisch-lutherische Konfession und Würden und Ämter nur für Deutsche. “Die lettische Landbevölkerung bleibt leibeigen und schollenpflichtig”, was seinerzeit die Vorherrschaft des Adels über die lettische Bauernschaft zementiere, erklärt Ivy Lohff. Nach der dritten Teilung Polens – dieses „gebeutelten Landes“ wie die politikerfahrene Großmutter zu bemerken pflegte – und der Auflösung der polnisch-litauischen Adelsrepublik gerät die kleine Stadt am Fluss im Jahr 1795 unter russische Herrschaft. Das russische Gouvernement Kurland wird aber weiterhin vom deutsch-baltischen Adel autonom verwaltet. Der kann dort zum Beispiel Anfang des 19. Jahrhunderts die Leibeigenschaft aufheben. Im Ersten Weltkrieg wird Goldingen von der deutschen Armee besetzt, später stoßen lettische Truppen bis an die Windau vor. 1918 ruft der Lettische Volksrat die Republik aus, Kuldiga gehört nun zum unabhängigen Lettland. 1939 werden im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts – dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und den ihm folgenden Umsiedelungsvertrag – die letzten Deutschbalten, die immer noch mehr als ein Zehntel der Stadtbevölkerung stellen, in den sogenannten „Reichsgau Wartheland“ umgesiedelt. Bei diesem Stichwort erzählt die frühere Besitzerin des karierten Koffers, Lisa Holub, Marias jüngste Tochter, von Onkel Otto. “Das ist der mit dem Geschirr”, erinnert sich deren Patin Vera, heutige Kofferträgerin. Otto ist nämlich Lisas Onkel väterlicherseits und seine baltendeutsche Familie Wiese betreibt im Kurland eine Keramikfabrik. Nachdem er aus dem Warthegau in die werdende Bundesrepublik Deutschland gelangt ist, arbeitet Otto Wiese bei der Firma Fürstenberg und versorgt Maria samt ihren Töchtern mit Porzellan „vierter Qualität“. Später folgen andere Qualitäten, die stehen jetzt bei der Kofferträgerin in einer Vitrine. Die hat auch eine Geschichte, kommt später.

„Weißt du, wo der Warthegau ist?“ fragt die Patentante ihre Nichte, „sonst hast du ja auch das Handy.“ Das hat sie: Der Reichsgau Wartheland (polnisch Okręg Rzeszy Kraj Warty) oder verkürzt Warthegau (polnisch Okręg Warcki) besteht im Verband des Deutschen Reiches von 1939 bis 1945. Grundlage für die Zugehörigkeit des vormals polnischen Territoriums zum Reich ist eine völkerrechts­widrige Annexion durch die Reichsregierung. Seinen Namen hat das Gebiet von der Warthe, die es vom Südosten zum Nordwesten durchfließt. Flächenmäßig umfasst der Reichsgau Wartheland im Wesentlichen die Landschaft Großpolen. Bei einer Einwohnerzahl von 4,5 Millionen (darunter 327.000 Deutsche) beträgt die Fläche des Reichsgaus 45.000 Quadratkilometer. In den Warthegau wird in dieser Zeit auch die Familie der damals sechsjährigen Ivy Lohff umgesiedelt. Sie schreibt: “Durch den Hitler-Stalin-Pakt gerieten die drei Ostseestaaten Lettland, Estland und Litauen in die Interessensphäre Sowjetrusslands. Darum folgten 80.000 Deutschbalten dem Appell “Heim ins Reich” im Herbst 1939. Mit einem Schiff gelangten wir über deutsche Ostseehäfen und Stationen in Gollnow/Pommern und Kulm an der Weichsel 1940 nach Posen/Warthegau.” In der ihrer Familie zugewiesenen Wohnung ist noch der Kachelofen warm und der Grießbrei steht auf dem Tisch. Das Mädchen aus Riga besucht im Warthegau die Volksschule und ein halbes Jahr die Oberschule – und realisiert erst viel später, dass aus dieser Wohnung Polen vertrieben worden sind. Noch viel später, 1996 schreibt sie in “Von Reichenbach bis Buenos Aires” (Erinnerungen des 20. Jahrhunderts) über Heimaterde in Schachteln: „Die kleinen runden Dosen mit den weiß glitzernden Deckeln hatten es mir angetan, ebenso die zarten Engel aus Draht und weißer Wolle, die die geschickten Hände meiner Großmutter bastelten und auf die jeweilige Dose setzten. Diese wurde dann mit weißem Dünensand gefüllt. Ich, die Sechsjährige, wollte wissen, was das alles zu bedeuten habe. »Das ist Heimaterde von unserem baltischen Ostseestrand, liebes Kind«, erklärte die Großmutter, »viele Menschen möchten, sozusagen symbolisch, ein Stückchen Heimat mitnehmen. Und der Engel bedeutet, dass wir uns unter Gottes Schutz stellen wollen, wenn wir nun die Umsiedlung mitmachen.« Umsiedlung – da war es wieder, das große schwere Wort, das ich in diesem Herbst 1939 in Riga in seiner politisch zeitgeschichtlichen Tragweite natürlich noch nicht begriff, das ich aber als aufregende Veränderung durchaus verstand und miterlebte: Umsiedlung – das waren viele Laufereien der Eltern zu Behörden und Ämtern, wo diverse Papiere, Pässe und Fahrkarten zu besorgen waren. Umsiedlung – fremde Menschen, meist Letten, kamen in unsere Wohnung, taxierten Möbel und kauften Hausrat. Umsiedlung – hieß kramen, aussortieren, packen, Abschiedsbesuche machen uneben die Herstellung dieser interessanten Schachteln, mit denen ich immer noch nicht fertig war. »Warum weinen alle Leute, wenn sie die Heimaterde kaufen, Omi?« Meine Großmutter schlug die Hände in gespielter Verzweiflung zusammen, “Wai, Erbarmung, wie soll ich dem Kindchen erklären, dass es traurig und aufregend zugleich ist, die eine Heimat zu verlassen, um in die andere große Heimat zu ziehen?« Von einer Heimat in die andere? … Zwei Heimaten? – und warum müssen wir überhaupt fortgehen?« Ja, warum mussten die Deutschbalten nach rund 700 Jahren ihre  angestammte Heimat so plötzlich verlassen?” Die Deutschbalten stellen sich aus Angst vor politischer Willkür unter den Schutz des Deutschen Reich. »Heim ins Reich« hieß die beschwichtigende und von vielen Landsleuten nationalgläubig angenommene Parole. “»Heim ins Reich gehen wir, weil Deutschland unser Mutterland und dieses Stückchen Erde hier, das Land unserer Väter, unser Vaterland Baltikum ist. In uns war und ist immer auch Heimweh nach’ dem großdeutschen Reich«, erklärte mir die Großmutter eindringlich. Ich nickte verständig. Die liebevolle Bewunderung und enge Verbindung mit »Reichsdeutschland« waren mir schon als Kind nicht fremd. Und so siedelten wenige Monate später rund 80 000 Deutschbalten, eingebürgert als Reichsdeutsche, in die »wieder gewonnenen« westpolnischen Ostgebiete Warthegau und Danzig-Westpreußen um und konnten dank großzügiger Abfindung sehr schnell eine neue Existenz aufbauen … wieder als eine Art Oberschicht über die »Volksdeutschen« (ansässige Deutsche in Polen) und über die unterdrückten Polen.” Und Ivys Großmutter erzählt von der guten alten Zeit, als sie ein Kind in dem Zarenreich war von den Sommerferien am Strand, d von den hellen Sommernächten am weiten weißen Ostseestrand, den rauschenden Kiefernwäldern, von schrulligen Onkeln und Tanten, von der pulsierenden Großstadt Riga mit Handel und Wandel, von den liebenswerten, idyllischen Landstädten mit skurrilen Typen, unverwechselbar in ihrer Originalität, Anlass zu Heiterkeit und Klatsch. „Dadurch hielt sie ein tiefgehendes, weil im Gefühl und im Herzen verwurzeltes, Geschichts- und Heimatbewusstsein lebendig! … die Heimat, die Heimaten . .. Seltsame plurale Sprachbildungen lernte ich von dieser Großmutter und verstand schon als Kind sehr wohl, was damit gemeint war, weil alles durchlebt und durchlitten war. Meist endeten diese Rückerinnerungen mit Liedern, die Omi uns vorsang. Sie hatte wie alle »höheren Töchter« eine gute musische Erziehung genossen und konnte noch im hohen Alter melodisch und innig, wenn auch ein wenig zittrig in den Obertönen, singen….Meine geliebte Großmutter ist nun schon über ein halbes Jahrhunderttot,dieHeimaterde aus den Dosen ist in alle Winde verstreut, wie die Deutschbalten, die als Volksgruppe langsam, aber unaufhaltsam aussterben… Und je älter ich werde, um so deutlicher und näher und lebendiger wird mir die wehmütige Erinnerung an meine Großmutter. In ihr verkörpert fand ich die verlorene Heimat wieder. Und ihr verdanke ich die Erkenntnis, dass es leichter ist, in das unbekannte Morgen zu gehen, wenn man um seine Herkunft und die Wurzeln im Gestern weiß.“

Kuldiga alias Goldingen wird 1940 durch die Rote Armee besetzt, was weitere umfangreiche Deportationen zur Folge hat. Wie die Kofferträgerin von Santa, ihrer wunderbaren Begegnung Nummer fünf – lernt, werden seinerzeit viele Letten nach Sibirien deportiert. Nachdem dann 1941 die deutsche Wehrmacht den Ort okkupiert, starten Schikanen und Enteignungen der jüdischen Bewohner, die knapp ein Zehntel von der Stadtbevölkerung ausmachen. Nach der deutschen Kapitulation marschiert 1945 wieder die Rote Armee in Kuldiga ein, bald darauf gehört die Kleinstadt zur UDSSR. Als gegen Ende der sowjetischen Zeit Ostseeschützer „einrücken“, liegt sie noch im Sperrgebiet und die internationalen Besucher*innen brauchen eine Sondergenehmigung. Damit streifen sie dann zwischen filmreifen Gebäuden aus sieben Jahrhunderten herum. Das historische Zentrum mit den gut erhaltenen Holzhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert war schon einige Male Drehort. Heute gilt ein Besuch der malerischen Kleinstadt als Pflichtprogramm beim Lettland-Urlaub, 2007 wird ihr der Titel “Das beste europäische Touristenziel” verliehen und die örtliche Tourismusorganisation schreibt: „Hier können Sie romantische Ferien verbringen. Kuldiga hat schon immer die Sinne und die Aufmerksamkeit der Leute gefesselt, Maler vergleichen die Stadt mit einem wunderbaren und begehrten Gemälde.“ Solche Vergleiche kommen den Wissenschaftlern und NGO-Aktivisten nicht in den Sinn, als sie 1988 von ihren Gastgebern vom kurländischen Schloss Edole, wo die erste internationale Tagung der Ostseeschützer stattfindet, an die Venta gebracht werden. Sie sollen Mittsommer feiern. Etwas anderes kann man in Lettland ab dem 21. Juni auch schlecht machen.

 

Knirschendes Grün oder Stimmungsaufhellende Wurzel

Schon Tage vor dem Mittsommerausflug an die Venta wird das Zauberschloss Edole im Kurland 1989 mit Kalmus ausgelegt, man läuft dort barfuß über saftig knirschendes, duftendes Grün. Und schon sind wir mitten in der Mittsommer-Botanik: Acorus calmus zählt zu den Sumpf- oder Röhrichtpflanzen, stammt aus Asien und wurde im 16. Jahrhundert in Europa eingebürgert. „Der Kalmus führt ein ätherisches Öl mit verschiedenen flüchtigen, aromatisch duftenden Bestandteilen“, so heißt es im KosmosNaturführer „Heilpflanzen“. Ätherische Öle sind leicht flüchtige und oft leicht entzündbare Stoffgemische. Viele Pflanzen produzieren diese Öle, zur Mittsommerzeit erreicht deren Konzentration im Pflanzengewebe ihren Höhepunkt. Ätherische Öle locken für Pflanzen nutzbringende Insekten an und wehren Schädlinge ab. Auch für  Menschen entfalten sie ihre Düfte und Wirkungen. Der fleischige, etwa daumenstarke Wurzelstock des Kalmus riecht stark nach Kampfer und eignet sich als aromatisches Bittermittel gut zur Appetitanregung und Verdauungsförderung. Als Medizinpflanze ist Kalmus schon seit dem 12. Jahrhundert auch in Europa bekannt, sie gilt als kräftigend und appetitanregend. Bei nervösem Magen und Störungen im übrigen Verdauungssystem hat sich ein Aufguss bewährt: Man lässt zwei Teelöffel zerkleinerten Wurzelstock pro Tasse eine Viertelstunde lang ziehen. Kandiert wird die Wurzel als „Deutscher Ingwer“ gegessen, Kalmus-Tinktur ist auch in Coca-Cola enthalten und häufiger Bestandteil von Fertigarzneien, Magenbittern und Kräuterschnäpsen. Das Kauen der Wurzel soll stimmungsaufhellend sein und in höherer Dosis leichte Halluzinationen verursachen, wofür die enthaltenen Asarone verantwortlich gemacht werden. Denen werden auch aphrodisierende Eigenschaften zugeschrieben. Hier hören wir lieber auf die Naturwissenschaftler*innen: Asarone wirken krebserregend, mutagen, das heißt, sie können das Erbgut verändern, sowie reproduktionstoxisch, das heißt, sie können sich auf die Fruchtbarkeit auswirken, während die positiven Wirkungen wissenschaftlich nicht nachgewiesen sind.

Die Ökologen in Edole trampeln nur darauf herum und arbeiten sich in diverse Sommermythen ein. Darin tauchen auch die in Europa heimischen Schilfrohre (Phragmites) eine Gattung der Süßgräser, auf: als Schilfbett am Eingang zur Unterwelt, aus der die Sonne wiedergeboren wird. Sie werden auch Ried genannt und wachsen an Marschen, Ufern von Seen, Teichen und Flüssen sowie in feuchten Wäldern, sind also in Lettland weit verbreitet. Es handelt sich um Gräser von bis zu sechs Metern Höhe, die Sprosse können verholzen. Die Triebe sind beim Schilfrohr einjährig und werden jährlich aus ausdauernden, im Boden kriechenden Wurzelstöcken (Rhizomen) vorgeschoben, die ein beträchtliches Alter, bis hin zu Jahrhunderten, erreichen können.

 

Alte Bräuche für Weiße Nächte oder Ligo bis zum Abwinken

Raus aus dem Röhricht, weitere botanische Details folgen, astronomische Details zur Sommersonnenwende erspart die Kofferträgerin sich und den Leser*innen. Nur ganz kurz: Eine Sonnenwende oder Sonnwende findet zweimal im Jahr statt. Am 20., 21. oder 22. Juni erreicht die Sonne an Orten nördlich des nördlichen Wendekreises ihren mittäglichen Höchststand über dem Horizont, es ist wärmer als im Rest des Jahres und es bleibt länger hell. Im Baltikum, wo es in diesen „Weißen Nächten“ kaum dunkel wird, sind die alten Bräuche lebendig. Wenn auch das Feiern von Mittsommer zu Sowjetzeiten verboten war, war und ist es für Lettland das populärste Fest überhaupt. Der 23. und 24. Juni sind dort Feiertage. Am 24. Juni kulminieren die Events. Der Festtag wird  in Lettland Jani genannt. Jani kommt von Johannes. Als die Christen ihr Hochfest zur Geburt Johannes´ des Täufers auf den 24. Juni legen, wird  die Sommersonnenwende kurzerhand zum Johannistag (auch Johanni, Johannestag). Wie auch immer man das Fest nennt, man versammelt sich mit Freunden und Familie um ein Freudenfeuer, wie es zu dieser Zeit überall in Europa bis ins östliche Sibirien brennt. Dort springen die Mitglieder des Stammes der Buryat über ein Feuer, um sich zu reinigen und zu schützen. In Krasnojarsk, am Ufer des Jenisej, an der Grenze zwischen Sibiriens Westen und Osten, entzündet man heutzutage eher Shishas, davon in „Der karierte Koffer fährt nach Krasnojarsk“. An den Ufern der Venta tanzen 1988 die versammelten und bekränzten Ostseeanrainer um ein sehr mächtiges Feuer und lassen sich von ihren lettischen Gastgebern inspirieren. Die warten zum Unter- und Aufgang der Mittsommersonne mit speziellen Speisen, Getränken, Liedern, Tänzen und Ritualen auf. Manch kampferprobte/r Naturwissenschaftler*in fühlt sich der Zeit enthoben, wird in Zauber eingeweiht, erliegt der Magie der uralten Tradition oder einfach der hier ungezähmten Natur. Männliche Ostseeschützer durchtanzen die Mittsommernacht mit Eichenkränzen, ihre Mitstreiterinnen als Blumenfeen. “Ligo! Ligo!” singen sie alle inbrünstig und immer wieder. Die Lieder haben alle den gleichen Refrain, den können auch Nicht-Letten. Ligo ist die lettische Bezeichnung für das Fest der Sommersonnenwende. Manchen Ökoaktivisten liegen die ligo-Gesänge dieser Mittsommernacht, , noch in den Ohren. Auf die Dainas, ihre traditionellen Volkslieder oder Gedichte, sind viele Letten stolz. Sie verehren Natur und Poesie gleichermaßen und betrachten – ganz anders als beispielsweise die in dieser Hinsicht Nazi-geschädigten Deutschen – Volkslieder als Teil der ihrer Identität. Dainas sind kurz, selten länger als vier Zeilen. In Jahrhunderten, die Letten als Fremdherrschaft erleben, stellen Dainas eine Möglichkeit dar, Mythen und Kultur zu überliefern. Während andere Völker Europas derweil ihre Identität in Wissenschaft, Philosophie oder Literatur finden, bleibt den Letten, einem Volk auf dem Lande – die Städte sind ja in diesen Zeiten deutsch- beziehungsweise russischsprachig – ihre gesungene Überlieferung. Die hat auch Vorteile: Bekanntlich prägt sich Gesungenes besser ein als Gesprochenes oder gar Geschriebenes. Während in anderen europäischen Kulturen viele „Folksongs“ mit der Entwicklung des geschriebenen Wortes verloren gehen, überleben die Dainas als Ausdrucksmittel für „Oral History“: Geschichte, Natur- und Heimatkunde.

 

Für jeden Bewohner ein Lied oder Gesungene Überlieferung

Johann Gottfried Herder, von 1764 bis 1769 Domprediger in Riga, sammelt lettisches Liedgut und veröffentlichte es in seinem Werk “Die Stimmen der Völker in Liedern”. Johann Georg Kol, ein Mitglied der kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst schreibt 1841: „Jeder Lette ist als ein Dichter geboren, jeder erfindet Gedichte und Lieder und singt sie. Wahrlich, es fällt schwer in Europa eine Nation zu finden, die eher den Namen „Land der Dichter“ verdient hätte als Lettland.“ Und die Ethnologin und ehemalige lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga bemerkt, “dass für den Letten die Dainas mehr bedeuten als nur eine literarische Tradition. Sie sind für ihn die Verkörperung des von Vorvätern überlieferten kulturellen Erbes, denen die Geschichte greifbarere Ausdrucksformen verweigerte. Diese Lieder bilden die Grundlage der lettischen Identität und Singen wird zu einer identifizierbaren Eigenschaft eines Letten.“ Tausende von Dainas sind in einem Schrank aufbewahrt, der als nationales Heiligtum gilt, und Dainas bilden auch die Grundlage der Sängerfeste im Baltikum, die inzwischen zum UNESCO Weltkulturerbe gehören. Das Lettische Liederfest ist ein in der Regel alle fünf Jahre wiederkehrendes kulturelles Großereignis in Lettland und Teil der lettischen Identität. Auf diesen Massengesangsveranstaltungen werden die Geschichten und Mythen, aber auch das Nationalbewusstsein in Liedern zum Ausdruck gebracht. Vom 6. – 8. Juli 2018 findet wieder ein Liederfest in Riga statt.

Das internationale Folklorefestival „Baltica 88“ eröffnet Mara Zalites mit der Bekräftigung, dass die Dainas „die Basis und ein unverzichtbarer Bestandteil der lettischen Kultur“ seien und „ein fundamentales Denkmal der Weltkultur, von dem die Welt leider viel zu wenig weiß.“ Heute sind Schätzungen zufolge rund 1,2 Millionen dieser Lieder und Gedichte schriftlich fixiert, quasi für jeden Bewohner ein Lied. Ethnolog*innen, Sprachwissenschaftler*innen, Matriarchatsforscher*innen, Archäolog*innen entdecken Dainas unter anderem von als ein wertvolles Fenster in die frühe indogermanische Sprach- und Kulturgeschichte, da die sie nur geringfügig und erst sehr spät von der Christianisierung beeinflusst wurden. Und die Umweltschützer*innen versuchen 1988 Mittsommer-Dainas wie das folgende zu lernen:

Visu gadu dziesmas krāju,

Jāņu dienu gaidīdama.

Nu atnāca Jāņu diena,

Nu dziesmiņas jāizdzieda.

Das ganze Jahr sammelte ich Lieder,

Auf den Jāņi-Tag wartend,

Nun ist der Jāņi-Tag gekommen,

Nun werden die Lieder gesungen.

 

Feurige Herrin oder Tanz im Meer

Symbol der Sonnengöttin Saule

Mehrere tausend Lieder besingen die Sonnengöttin Saule. Sie formt demnach die Welt aus einem Ei, nachdem sie es viele Jahre lang warm gehalten hat, streitet als Gutsherrin und Mutter mit ihren faulen Morgenrötetöchtern,legt sich feurig mit ihrem Mann, dem Mondgott an, weint, wenn ihre seidenen Laken verregnet werden, wenn sie ein Taschentuch verloren hat, weil ihr Boot untergegangen ist, aber auch um das Schicksal ihrer Tochter und deren reiche Aussteuer. Saule trägt seidene Kleidung, besitzt hundert wollene Schals und natürlich wertvollen Schmuck. Wenn sie über die Kornfelder schreitet, fördert es das Wachstum. Sie bricht manchmal versehentlich eine Ähre ab, die dann doppelt nachwächst. Des Nachts geht Saule normalerweise im Westen in die Unterwelt, in der Mittsommernacht tanzt sie allerdings auf einem Stein mitten im Meer. Die Menschen gehen nicht schlafen in der Hoffnung, die Sonnengöttin zu sehen, wenn sie bekränzt mit den Blüten des roten Farns (siehe unten) und Apfelblüten über dem Horizont. Die Dainas werden 1988 von nachtaktiven Dolmetschern fleißig übersetzt, so erfahren die Naturschützer aus den übrigen Ostseeanrainerstaaten, dass die Natur das Lieblingsthema der lettischen Mythologie ist, eine große Bedeutung bei der Selbstwahrnehmung ihrer Gastgeber hat und die Hauptrolle beim Mittsommerfest spielt – zu dieser Zeit beobachtet man im Baltikum seit alstersher Naturphänomene, unter anderem, um das Wetter für die Ernte vorherzusagen.

 

Unkraut erhellt die Seele oder Sieben Blüten für die Dame

Verwundert oder bewundernd erleben angereiste Ökologen in diesem Sommer auch die Aufmerksamkeit, mit der Kräuter gepflückt werden – in Wäldern, an Gewässern und auf Wiesen. Die baltische Mythologie spricht Gräsern und Blumen, welche am Tag vor Mittsommer gesammelt werden, spezielle Heilkraft für Mensch und Tier zu.  Das stimmt mit naturwissenschaftlichen Messergebnissen überein. Die zeigen, dass der Gehalt an wirksamen Inhaltsstoffen in diesen sonnigen Zeiten seinen Höhepunkt erreicht. „Mittsommerkräuter“ werden in Lettland nach alter Tradition für Tees oder für die Sauna, als Heilmittel, aber auch zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit verwendet oder, um sich als Frau einen Kranz aus mindestens sieben verschiedenen Blütenpflanzenarten zu winden. Also folgen die Ökologinnen am Tag vor der Mittsommerfeier am Fluss der bekennenden lettischen Hexe in den Wald von Edole, durchschreiten mit ihr die wundersame Wunschallee, sammeln vielerlei Blühendes, flechten Kränze, binden Sträuße, und schmücken sich nach Anleitung der Gastgeberin, die in diesem Punkt nicht mit sich reden lässt, mit Blütenkränzen, während die Männer zu Eichenlaub greifen.

Zu den verehrten Pflanzen, den Johannisgräsern (jāņu zāles) gehört allen voran eine Staude, wie man ausdauernde Pflanzen nennt: das Hartheu oder Johanniskraut, Hypericum perforatum. Der botanische Name hypericum kommt vom Griechischen „zu schützen“ und bezieht sich auf die Annahme, dass die Pflanze böse Geister zum Verschwinden bringt; perforatum heißt durchlöchert. So sehen die Blätter aus, wenn man sie gegen das Licht hält. Sie enthalten durchscheinende Ölbehälter.

Die goldgelben Blüten setzen beim Zerreiben den blutroten Farbstoff Hypericin frei. Wenn nicht pigmentierte Weidetiere wie Schimmel, weiße Schafe oder weiße Ziegen dieses sogenannte Johannesblut aufnehmen, führt es nach der Bestrahlung durch Sonnenlicht zur sogenannten “Hartheukrankheit”. Die roten Blutkörperchen lösen sich auf. Die Staude gilt vielen Landwirten als „Unkraut“, andere bauen es als Heilpflanze an. Die wirkt antidepressiv. Wissenschaftler gehen davon aus, dass dabei mehrere Stoffe und Mechanismen zusammenspielen. Anwender*innen wird Achtsamkeit empfohlen, denn Johanniskraut bewirkt auch beim Menschen eine erhöhte Lichtempfindlichkeit und kann sogar zur Abstoßung von Transplantaten führen. In der Volksmagie gilt Hartheu, das leuchtet „wie die Sonne in der Dunkelheit“ und die Seele erhellt, als Wahrzeichen der Sonne, das gegen alle Arten von Übel schützt. Es wird ins mittsommernächtliche Freudenfeuer geworfen, zusammen mit anderen „mildtätigen“ Pflanzen wie der Schafgarbe.

 

Träume vom Liebsten oder Wo der Holler wächst

Die Schafgarbe, unters Kopfkissen gelegt, soll Träume von künftigen Lieben verschaffen und der Holunderbaum, ursprünglich als Sitz der Göttin, später als Hexensitz angesehen, wenn er in der Mittsommernacht gefällt wird, echtes Blut weinen – man soll vorsichtshalber nicht unterm Hollerbusch einschlafen (wer weiß schon genau, wer dann „huschhuschhusch“ oder Ähnliches macht). Holunder, Sambucus nigra, ist der Name für eine Gruppe von dreißig Arten kleiner Bäume, die in den gemäßigten Klimazonen der nördlichen Hemisphäre wachsen. Auch der Schwarze Holunder blüht im Juni. Seine Blüten enthalten unter anderem ätherisches Öl und Gerbstoffe. Ein Aufguss von zwei Teelöffeln getrockneten Blüten pro Tasse, mit Honig gesüßt und heiß getrunken, ist ein bewährtes und schweißtreibendes Hausmittel bei Erkältungskrankheiten. Frau Kiene vom Hofladen in Behrensdorf (link) kocht sensationelles Holunderblütengelee und es wird gesagt, dass überall wo der Holunder wächst, die Göttin nicht weit sei.

Moderne Hexen wie Anna Franklin, die Autorin des Buches „Mittsommer – Feste und Rituale“, empfehlen auch Basilikum. Letzteres kann man nämlich nicht nur auf Mozarellascheiben legen oder zu Pesto zermörsern. Ocimum basilicum aus der Familie der Lippenblütler, auch Basilie, Basilienkraut oder Königskraut genannt, ist eben nicht nur eine Gewürzpflanze, sondern gehört auch zu den ehemaligen Hexenkräutern. Wie die anderen „Mittsommerkräuter“ enthält es zur Sonnenwende im Juni besonders viel ätherisches Öl,  das an warmen Sommertagen in die Nasen steigt. Wichtigster Bestandteil dieses Öls ist das charakteristisch duftende Methylchavicol, es fördert die Ausscheidung, unterstützt die Verdauung und vertreibt Blähungen. Arzneilich verwendet man die Pflanze daher bei Magen- und Darmstörungen. In der Volksmedizin, vor allem im Mittelmeerraum, wird Basilikum schon seit langem bei Appetitlosigkeit, Blähungen und Völlegefühl eingesetzt, einige Heilkundige wenden es zur Stärkung des Körpers und der Liebe an. Dafür empfiehlt Franklin, dem mittsommernächtlichen Festmahl etwas Ocimum hinzuzufügen.

 

Höchstwahrscheinlich unwiderstehlich oder Mild mit Melisse

Mancherorts werden Birken als Mittsommerbaum errichtet und die Häuser mit dem Laub der Bäume geschmückt. Die europäische Birke mit ihrer hellen, weißen Rinde galt in alten Zeiten als Symbol für Mutter Erde. Die Blätter von Betula pendula, der Hänge- oder Weiß-Birke enthalten Flavonglykoside, Gerbstoffe und Saponin und gelten als zuverlässig schweiß- und harntreibendes Mittel, das dabei jedoch die Nieren nicht reizt. In der Sauna in Hamburg-Altona verehren Schwitzende den naturreinen Birkenaufguss, genannt “Banja”. Und die Kofferträgerin verehrt seit Mittsommer 2017 die Bergtaiga (siehe unten und “Der karierte Koffer fährt nach Krasnojarsk”).

Die Kamille verbindet man hierzulande mit Unkrautvernichtern (Herbiziden) oder Bauchweh, andernorts mit den Sonnengottheiten. Auch sie gilt als eines der heiligen Kräuter der Sommersonnenwende. Zu Recht, könnte man schreiben, den Chamomilla recutita, die Echte Kamille, der Klassiker unter Mutters Heilpflanzen hilft tatsächlich krampflösend und entzündungswidrig nicht nur bei Bauchweh sondern auch bei Zahnfleischentzündungen, kleinen Hautverletzungen und Verbrennungen. Das einjährige Kraut blüht von Mai bis August massenhaft an frischen Schuttstellen und Ackerrändern. Die Blütenköpfe der Echten Kamille sind hohl, ihr ätherisches Öl enthält Chamazulen. Ein Schlafkissen mit Kamille soll erfrischenden und erholsamen Schlaf gewährleisten.

Das Gänseblümchen gehört wie die Kamille zu den Korbblütlern, bei denen viele winzige Blüten zu einem Blütenkopf vereinigt sind, sozusagen einem „Korb“. Junge Gänseblümchen reichern jeden Wildkrautsalat an, Blätter und Blüten wirken als Aufguss unter anderem schmerzlindernd und krampflösend. Der Tee wird auch bei Rheuma, Magen-Darm-Beschwerden und äußerlich als Hausmittel gegen Hautausschläge und bei schlecht heilenden Wunden genommen.  In den baltischen Ländern gilt Bellis perennis, das Gewöhnliche Gänseblümchen nicht als gewöhnlich, es ist der Saule geweiht. Zur Sommersonnenwende mittags zwischen zwölf und ein Uhr gepflückte Gänseblümchen, in der Tasche mitgeführt, sollen bei jeder Art von Vorhaben Glück bringen. Das ist nicht nachgewiesen. Versuch macht klug oder glücklich…

Dill wird als heiliges Kraut ins Sommersonnenwendfeuer geworfen. Wie viele Gewürzkräuter steckt auch diese aromatische Pflanze voll voll wunderbarem ätherischen Öl. Es enthält Carvon, Phellandren, Limonen und weitere Bestandteile und wirkt gegen Blähungen, Verdauungsstörungen, mangelnde Milchsekretion, und bei Appetitlosigkeit – in jedem Sinne, Männern empfiehlt Franklin, eine kleine Handvoll Dillsamen ins Badewasser zu geben: „Wenn Sie danach auf eine Party gehen oder in einen Nachtclub, werden Sie höchstwahrscheinlich unwiderstehlich sein.“ Auch da macht Versuch klug – oder attraktiv…

Im Juni ist auch die Melisse auf dem Höhepunkt ihrer ätherischen Kraft. Das stark duftende Öl der  Zitronen-Melisse, Melissa officinalis enthält Citronellal und Citral. Wenn sie das an Zitrone erinnert, liegen Sie richtig. Melissentee wirkt krampflösend, beruhigend und blähungstreibend, hilft bei Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Beschwerden der Verdauungsorgane. Regelmäßiges Trinken von Melissentee soll das Leben verlängern. „Von Llewelyn, im dreizehnten Jahrhundert Prinzessin von Glamorgan, wurde behauptet, sie habe den Tee jeden Tag getrunken und sei 108 Jahre alt geworden.“ So schreibt Franklin in ihrem Kapitel über die Kräuter, die in der Mitte des Sommers ihre größte Power entfalten. Ganz ohne Zauberei wird Studenten im 16. Jahrhundert Melisse empfohlen, da sie den Geist kläre, den Verstand schärfe und die Erinnerungsfähigkeit stärke. Bei KEBAP  werden riesige Sträuße Zitronenmelisse geerntet, getrocknet, gerebelt. Über die Wirkung des Tees wird noch berichtet, schmeckt auf jeden Fall lecker.

 

Bloß nicht einschlafen oder Farnblüte verhüten

Auf strikte Anweisung ihrer ritualkundigen Gastgeber bleiben die Umweltkämpfer 1988 die ganze Mittsommernacht lang auf. Die Letten locken sie in den halbdunklen Wald, es geht unter anderem um den Farn. Farn nennt man Pflanzen der Gattung Polypodiophyta. Sie produzieren Sporen und sollen der Sonnengöttin und den Gottheiten von Donner und Blitz heilig sein und zur Sommersonnenwende Zugang in jenseitige Welten verschaffen. Die baltische Sonnengöttin Saule, schreibt Franklin, erscheine am Mittsommernachtstag bekränzt mit den Blüten des roten Farns. Das offene Geheimnis: Farn hat keine Blüten. Die magische Farnblüte gehört zur baltischen Mythologie und spielt eine wichtige Rolle bei der Sommersonnwendfeier. Gemäß der Überlieferung öffnet sie sich nur zu Mitternacht am längsten Tag des Jahres, macht jeden glücklichen Finder allwissend, weist den Weg zu verborgenen Schätzen, gewährt Zugang zu den Gedanken anderer Menschen und zur Sprache der Tiere, aber auch die Fähigkeit, den Tod eines Menschen vorherzusagen. Um die mythische Blüte aufzuspüren, suchen also Wissenschaftler und Wissende in dieser Nacht die Wälder an der Venta auf. Was sie dort finden, ist nicht im Einzelnen dokumentiert. Man hört Gitarrenklänge, das Ploppen von Bierflaschen und Gelächter. In der lettischen Mythologie ist die Farnblüte vor allem ein Symbol für Fruchtbarkeit. Wenn junge Paare mitten im Sommer nachts die Wälder aufsuchen, um die „Farnblüte zu suchen“, umschreibt dies erotische Zweisamkeit. Eine Schwangerschaft in Lettland auch Papardes zieds – „Farnblüte“ genannt und auch eine lettische Nichtregierungsorganisation, die Jugendliche über verschiedene Aspekte ihrer Sexualität aufklärt, trägt diesen Namen. Wenngleich Farne keine Blüten tragen, gehen Forscher von einem realen Kern des Mythos aus. In früheren Zeiten ist die Klassifizierung der Pflanzen weit von der heutigen wissenschaftlichen Genauigkeit entfernt. Wegen ihrer äußeren Ähnlichkeit kann man bestimmte Blütenpflanzen mit Farnen verwechseln. Tatsächlich öffnen sich die Blüten einiger dieser Pflanzen nachts. Bei bestimmten Farnen wie dem Königsfarn (Osmunda regalis) treten Sporangien, wie man die Sporenbehälter der Pilze, Moose, Schachtelhalme und Farne nennt, in Haufen auf.

Sie sehen Blüten sehr ähnlich, so dass diese Pflanzen als „blühende Farne“ bezeichnet werden. Zur Mittsommerzeit kann man mit einem gegabelten Haselnusszweig, der über einen Zinnteller gehalten wird und mit dem man die Pflanze biegt – also nicht mit den Händen berührt – den magischen Farnsamen sammeln, wenn man nicht mit Tanzen, Singen oder anderweitig ausgelastet ist. Das sind die angereisten Ökologen in Lettland im Juni 1988.

 

Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt

Die Sommer in Lettland sind kurz, trocken und warm, die Nächte hell. Und die Brücke über die Venta ist eine der längsten Backsteinbrücken in Europa. 1874 wird sie nach den Richtlinien des Straßenbaus der Zarenzeit errichtet – 500 Fuß lang und 26 Fuß breit – und 2007/2008 mit Hilfe von EU-Geldern restauriert. Die Umweltschützer freuen sich im Juni 1988 auf der Brücke über den schönen Blick auf den Wasserfall Ventas rumba. Den traditionellen Lauf der Nackten über die alte Brücke in der Mittsommernacht verpassen sie auf Grund von anderen Verpflichtungen.

Eine von ihnen überquert im Sommer 2017 in Erinnerungen versunken bei Skrunda die Venta. Dann geht es wieder leicht bergauf und nach knapp zwei Stunden ist Saldus erreicht. Dort hält Santa ein Schild in der Hand: “Mrs. Vera Maria Stadie” und bringt als Hausdame des  Hotels Smuku muiza ihren derzeit einzigen Gast und dessen Koffer zum ehemaligen Privatgut Schmucken. Die Lettin fährt einen geschickten Reifen auf den holperigen, durchlöcherten, nur teilweise asphaltierten Wegen und warnt: “There are no shops!” Ein paar Kilometer weiter verrät die kundige Gastwirtin “There is no TV in your room!”. Das hört sich gut an. Dass Koffer und Trägerin überhaupt genau dort gelandet sind, verdanken sie Carsten Okkens von Schneider-Reisen. In Schmucken wird am 11.11.1900 Maria Poetschke geboren, spätere Oma der Kofferträgerin. Hundertsiebzehneinhalb Jahre später ist der karierte Koffer dort im einzig original erhaltenen Gebäude untergebracht. “Hier haben die Dienstboten gewohnt – wie ich”, verkündet Santa stolz und froh und serviert vor dem brennenden Kamin das Geburtstagsdinner: Eine Karaffe Wasser mit Minze und Rhabarber aus dem Gutsgarten, Apfelsaft von den uralten Obstbäumen (Etikett) mit einer Spur Saft von schwarzen Johannisbeeren, Salat mit viel Dill, Sauermilch mit Erdbeeren. Auf dem großen Esstisch steht ein Strauß kleiner Rosen einer Sorte, deren Duft schon viele Generationen betört hat, und die man auch auf dem verblassten historischen Foto erkennt. Auf diesem Duft diffundiert Marias Kindheit, die einzig unbeschwerte und friedliche Zeit ihres Lebens, ins Stammhirn der Enkelin. “Lass es dir gut gehen”, flüstert es lautlos.

Im Notizbuch von Maria Holub, geborene Poetschke, steht ein Zitat von Keyserling: “Was den Menschen wesentlich macht, ist nicht, was er tut, sondern in welchem Geiste er es tut und wie.” Hermann Alexander Graf Keyserling wird 1880 in Livland geboren, stammt aus altem baltendeutschen Adelsgeschlecht und wächst auf den abgeschiedenen Gütern seines Vaters auf, wo er von seinen Eltern und Hauslehrern unterrichtet wird. Das Familienvermögen ermöglicht ihm das Leben eines freien Schriftstellers. Das Motto seiner Weltreise lautete: “Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum”. Im “Reisetagebuch eines Philosophen” schildert Keyserling, dass er sich so in seine jeweilige Umgebung versenkte, dass er zu einem Teil von ihr wurde. Der karierte Koffer und seine entrückte Besitzerin werden im Juni 2017 ein Teil von Gut Smuku Muiza.

Ebenfalls im Kurland geboren ist Eduard Graf von Keyserling, Jahrgang 1855. Er verbringt dort seine Kindheit und Jugend. Diese Jugend – und seine in leise Ironie gehüllte Standeskritik – spiegelt sich in seiner Novelle „Schwüle Tage“, die die Kofferträgerin und leidenschaftliche Leserin im Bücherschrank ihres verstorbenen Vaters findet. Darin sagt Bill Graf von Fernow, der das Abitur nicht bestanden hat und zur Strafe die Ferien auf dem ländlichen Stammsitz verbringen muss, über seinen Vater: „…ich bin in seiner Macht. Hier eingesperrt zu werden wie ein Kanarienvogel, ist lächerlich. Er ist ja gewiss ein feiner, patenter Herr, aber er denkt nur an sich. Die anderen liebt er nicht, wenn – wenn es nicht zufällig Damen sind.“ Und der Vater spricht zum Sohne: „Na und wenn du dann das Examen hinter dir hast…..dann tritt also die Wahl eines Studiums an dich heran. Es ist wohl diese oder jene Wissenschaft, die dich besonders anzieht: Ja! Aber meiner Ansicht nach darf das nicht bestimmend sein. Gott! Unseren Neigungen entlaufen wir ohnehin nicht. Von Anbeginn muss ein Studium gewählt werden, das sozusagen als neutraler Ausgangspunkt dienen kann, von da aus kann dann zu dem, was wir sonst wissen und erleben wollen, übergegangen werden. In unserer Familie ist die Jurisprudenz traditionell. Ein ruhiger, kühler Ausgangspunkt, der sowohl zu anderen Wissenschaften wie zum praktischen Leben die Wege offen lässt.“ Weiter heißt es in Keyserling´s Novelle: „Er sprach so fließend und betonte so wirksam, als hielte er eine Rede in einer Versammlung. Dabei sah er über mich hinweg, als stünde die Versammlung hinter mir. Es war recht unheimlich!“ Marias Vater, Veras Urgroßvater, nichtadeliger Zeitgenosse von Eduard Graf von Keyserling, pflegt einen ganz anderen Erziehungsstil. Seinen “Kindern und Großkindern” schreibt er ins Stammbuch: „Tut nichts Böses in der Hoffnung, es werde heimlich bleiben! – Lasst Euch genügen an dem, was Ihr mit Ehren und gutem Gewissen erworben habt, ob es gleich nicht allzu viel ist! – Lebt friedlich!“ Der Frieden liegt August Poetschke, 1860 geboren auf dem „Rittergut Neuenburg Kurland“ besonders am Herzen. Seine Tochter berichtet, im Elternhaus sei nie ein böses Wort gefallen. Auch Augusts Frau Emilie ist auf einem kurländischen Rittergut geboren. Ihr Vater, Jahrgang 1825, hat diverse Mühlen erbaut. Schwiegersohn August schreibt in der Ergänzung zum Testament: „Er hatte während seiner Lehrjahre seine rechte Hand verloren, und trotzdem hat Vater so ziemlich alle Mühlenbauten in Kurland, Livland, Litauen, Russland geleitet und aufgeführt. Auf den Mühlenbauten wurde Vater beständig verlangt.“

 

Grün und Wasser oder Wenn ich an Schmucken denke

In Schmucken herrscht Frieden. Die Kofferträgerin stellt den Koffer auf den Schrank, lauscht den Vögeln und den Lebenserinnerungen ihrer Großmutter: “Wenn ich an Schmucken denke, dann sehe ich viel Grün, viel Gärten, viel Wasser”, und schreibt am 14. Juni 2017: “Wie gut, dass nicht auch noch die Sonne scheint, sonst würde mich das alles hier überwältigen… Es ist unglaublich, wie hier die Vöglein singen. “Sie singen so jung, sie singen so alt”, heißt es in einem alten Lied. Eben habe ich ein mir unbekanntes Exemplar angestarrt, ein hellbraunes Vögelchen mit beigefarbener Brust, brauner Stirn und spitzem Schnabel. Hat sich beobachten lassen, hat mich beobachtet. Alles leuchtet: Die Pfingstrosen mit ihren kugelrunden Knospen, die Birke, die weißen Wolken. Leichter Wind weht, ich bin angekommen an der ersten Station in den Fußstapfen meiner Großmutter…Jetzt kreist wieder der große Greif über der Wiese vorm Wald, segelt durch die Wolken. Der kleine alte Apfelbaum – einer von denen der Saft stammt – lässt sich bewegen vom Westwind. Das Zurückkommen sei ein Problem, so haben meine Seglerfreunde immer gesagt, wenn ich ins Baltikum segeln wollte. Nun bin ich erstmal hier… Als ich gestern vorm Schlafengehen das Fenster öffnete, stolzierte gerade Herr Adebar über den Weg…Und dann hob er ab in flachem Flug Richtung Gewässer.”

 

Ein Kälbchen namens Ludmilla oder Eine kleine Welt

Im 16. Jahrhundert beginnt Baron von der Recke, seinen Besitz in Schmucken trocken zu legen. Viel Wasser gibt es dort. Es sei sehr eisenhaltig, sagt Santa, und man schmeckt es. Auch der Bade- und Paddelsee schimmert moorig-rostig. Dort lässt es sich trefflich, still und einfach auf dem Steg liegen und in den Himmel schauen.

Im Kamin- und Esszimmer des Hotels hängt eine “Special-Charte von dem im kurländischen Gouvernement im Tuckumschen Kreise belegenden PRIVATGUTE SCHMUCKEN angefertigt im Jahre 1888 von dem kurländischen beeidigten Privatlandvermesser J. Brunowsky.” Als diese Karte entsteht, regieren die deutschbaltischen Landadeligen,Großgrundbesitzer wie Baron von der Recke, ihre kleine Welt absolutistisch. Bis ins 20. Jahrhundert hinein genießen sie Privilegien wie die Rechtsprechung über ihre Ländereien. Die Pachtbauern, ihre Felder sind auf der großen Karte als Bauernländereien eingezeichnet, sind von ihnen abhängig.

 

Zackig gegen die Lethargie oder Radikale Europäisierung

Das Nachdenken über den kurländischen Adel führt zu “dessen” Zar. Mit Peter I. (siehe “Der karierte Koffer fährt nach Krasnojarsk”) steigt das russische Imperium zur europäischen Großmacht auf. Provinzen wie Kurland sind dafür unter anderem wegen der Häfen wichtig. Baltische Hafenstädte sind für Peter den Großen, der in seiner Administration am Petersburger Hof zahlreiche deutschbaltische Adlige beschäftigt, “Fenster nach Europa”. Zudem gewinnt er im Baltikum westlich strukturierte Gebiete. Und für seinen 1721 angenommenen Titel Imperator – mit dem er den gleichen Rang wie der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs beansprucht –  braucht Peter I. die Vielfalt der Untertanen. Im SpiegelBuch „Die Deutschen im Osten Europas“ gibt es einen Aufsatz von Rainer Taub. Er heißt „Zackig gegen die Lethargie“ und handelt von den deutschen Wissenschaftlern, Siedlern und Handwerkern, die die russischen Zaren „als tüchtige Vorbilder“ ins Land geholt haben und denen ein steiler sozialer Aufstieg glückte. Für seine „radikale Europäisierung“ habe Peter der Große „fleißige, tatkräftige Leute, die den Boden urbar machten und bestellten, die Handwerk und Handel, Militär und Medizin, Erziehung und Wissenschaft voranbrachten” gebraucht. “Diejenigen, denen diese Rolle zufiel, waren großenteils deutscher Herkunft.“ Und während im 18. Jahrhundert anderswo im historischen Livland die schwedische Krone Privilegien des deutschen Adels einschränkt und viele alte Güter des Deutschen Ordens – auch an Bürgerliche – verpachtet, sind stellt Zar Peter in Kurland das adlige Monopol am Grundbesitz wieder her, garantiert die Fortführung der “ritterschaftlichen Selbstverwaltung”, bestätigt die evangelisch-lutherische Kirche als Landeskirche sowie ein deutsches Gerichtswesen, deutsche Schulen und deutsche Verwaltung.

Peter und Vera in Moskau

Daraufhin strömen weitere gut ausgebildete Deutsche nach Kurland und im 19. und 20. Jahrhundert werden die baltischen Provinzen Russlands verstärkt durch die deutsche und protestantische Kultur geprägt. Diese westliche und christliche Prägung sei, wie die „Kurze Geschichte Russlands“ erläutert, „allerdings mit einem ungewöhnlichen sozialen Konservativismus“ zusammen gegangen: „In den inneren Angelegenheiten regierten hier spätmittelalterliche Stände fremder Nationalität über estnische und lettische hörige Bauern.“ Ungefähr ein Zehntel von Peters Untertanen sind Hörige – Menschen im persönlichen Besitz eines anderen. Ihre wichtigste Funktion ist die Hausarbeit, seltener tun sie Arbeit auf dem Feld. Für die einen gilt es als Zeichen von Rang, Hörige zu besitzen, andere versuchen der Belastung der Steuer – Peter der Große muss unter anderem seine große Flotte finanzieren – zu entkommen, indem sie sich der Hörigkeit ergeben. Zu beachten ist der Unterschied zwischen Hörigkeit und Leibeigenschaft. Ehemals freie Bauern, die sich freiwillig dem Grundherrn unterstellt und ihm ihr Land übergeben haben, werden als zu diesem Land gehörend, als Hörige, bezeichnet. Als Leibeigene werden Diener des Grundherrn bezeichnet, die dessen Land und Gut bewirtschaften. Im Kurland wird die Leibeigenschaft Anfang des 19. Jahrhunderts aufgehoben.

 

Ein Kälbchen namens Ludmilla oder Leichtigkeit mit Minze

Das gilt also auch für das Gut Schmucken, das zu den rund 300 deutschbaltischen Herrensitzen gehört, die die Wirren des 20. Jahrhunderts überdauert haben. Überdauert? Es ist nicht mehr viel übrig. Das ausgedehnte Gelände ist jetzt mit Grill- und Sportplätzen, Ruderbooten, großem Festzelt, Sauna am See, Terrassen für Geselligkeit und Gesellschaften ausgestattet. Es singen wohl heute die gleichen Vögel wie zu den Zeiten, als Maria und ihre Geschwister dort unterwegs sind, aber die drei gehen damals anderen Beschäftigungen nach: “Wir hatten auch Tiere, Pferde, Kühe und Schafe. Jedes Kind von uns bekam mal ein Tier geschenkt, ich besaß ein kleines Kälbchen, das hieß Ludmilla. Ich glaube, wir haben als Kinder die schöne Landschaft und das Landleben sehr genossen. Viel Spaß hat uns gemacht, wenn wir im Mühlengraben unter den Steinen nach Krebsen suchen durften oder im großen Wasser vor dem Haus baden durften oder die Mutter fuhr mit uns in den Wald und wir suchten Beeren und Pilze. Die größte Freude war aber…, wenn wir sonntags zum Vater ins Bett durften. Die Mutter war schon lange aufgestanden und der Vater las uns die schönsten Geschichten vor.” Im Juni 2017 schreibt am Geburtsort ihrer Oma mütterlicherseits die Kofferträgerin ihre Geschichten: “Es herrscht Leichtigkeit mit Minzaroma und Rosenduft und Zwitschergesang und Kaminduft und leisem Blätterrauschen…während sich die Wolken über Schmucken verziehen und Santas Mann in den Gemüsegarten geht. Habe hier voll den Überblick. Habe das ganze Haus…für mich allein mit Kaminzimmer, Wintergarten, Elchen und Hirschen an der Wand, Rebhühnern in den Fensternischen, Billardtisch und all dieser Stille…

Ich genieße die Ruhe – und das Zwitschern und Flöten in den alten Bäumen. In den Ziegelwinkeln des alten Hauses und unterm Dach brüten die Schwalben, in den mit Findlingen eingefassten Beeten verblüht der Mohn und Schwertlilien erblühen, prächtige alteingesessene Stauden…Derweil gucke ich den Schwalben zu. Gestern Abend haben die Kraniche herzzerreißend gerufen….Vor der Tür liegt ein magischer Stein, man müsse sich vor Sonnenaufgang daraufstellen, sagt Santa und betont: “It´s a good house!”” In diesem guten Haus serviert am 14. Juni 2017 die Russin Maja – erfreuliche Begegnung Nummer sechs – Soljanka, Salat mit viel Dill aus dem Gutsgarten, Gemüse und Fleisch und dann: Rharbarber auf Mürbeteig mit Baiserhaube – ohne Worte. Auch die Ruinen sind imposant, der magische Stein noch immer magisch und die Gegend so paradiesisch wie zu Marias Kindertagen.

 

Karierter Koffer im Paradies oder Eisen im Zahnputzwasser

Vielleicht lässt sich selbst der weit gereiste Koffer – in den 1970er-Jahren befördert ihn Marias jüngste Tochter Lisa unter anderem nach Nordafrika – hin und wieder bezaubern, von einem Paradies wie Smuku muiza oder von Juri? Santa fragt in Saldus vergeblich wegen der Reparatur an und dann packt Juri zu. Geschickt und erfinderisch befestigt er den glattgegrabbelten Koffergriff und bekommt Platz Nummer sieben in der Reihe der charmanten Begegnungen.

Die Kofferträgerin treibt sich derweil unbeschwert und unbegleitet auf dem Privatgute herum und schreibt am 15. Juni 2017 bei Sonnenaufgang: “Die Kraniche rufen durchdringend, die Vögel geben ihr Crescendo, der starke Kater streift über sein Gut, der Himmel leuchtet klar und hell, ein wunderschöner Tag steigt auf… Jetzt, gegen fünf Uhr steigt die Sonne hinter der Ruine des alten Herrenhauses auf. Der magische Stein ist also genau gen Osten gerichtet…Jetzt wirft die Sonne schon Strahlen auf die Mauer neben dem Haus, in dem Santa wohnt und sich die Rezeption befindet. Direkt neben meinem Fenster hängt ein Schwalbennest mit rasendem Durchgangsverkehr… Die Schwalben servieren Frühstück. Der Storch schreitet sein Grundstück ab. Das Zahnputzwasser schmeckt nach Eisen. Die krummen alten Apfelbäume könnten viel erzählen. Es duftet nach Pfannkuchen. Zwei große Hasen kommen zu Besuch”, später: “Bin am lang gestreckten Gewässer entlang gegangen, bis dahin, wo die Kraniche wohnen und es nicht mehr weiter geht…. Gerade überqueren zwei Schwäne das Wasser. Wolken ziehen auf, der Kuckuck ruft. Nachmittags hat Maja mich aus meinem Nickerchen geweckt, weil deutschsprachige Gäste eingetroffen waren: Walda und Andres” (spannende Begegnung Nummer acht und neun). Andres hat Dokumentarfilme gedreht, auch in Sibirien; mit Franzosen zusammen “Gestraft für einen Traum” produziert und die lettische Filmproduktion mit gesteuert. Sein Sohn war als Soldat in Sibirien verpflichtet, zwei Jahre hat er dort unter der Erde gearbeitet. Der Filmemacher spricht auch vom deutschen und russischen Adel, die bekanntlich eng miteinander verbandelt gewesen seien, hat die Deutschen im Verdacht, in Russland die Bürokratie eingeführt zu haben. Tatsächlich kommen im Zarenreich zahlreiche russische Minister, Politiker, Generäle und Admiräle aus den Reihen des deutschbaltischen Adels. So spielt die baltendeutsche Oberschicht auch in der Geschichte Russlands eine bedeutende Rolle. Andres empfiehlt als Lektüre Keyserling und schwärmt von  Rigas Kultur. Die rühre schon aus der Zarenzeit: “Die Lehrer waren nicht beim Militär.” Das Ehepaar spricht nicht nur deutsch sondern auch französisch, “echte Rigaer”.

 

Ein Fest der Sinne oder Medusenhäupter und Sphingen

Als August Poetschke mit der Familie nach Riga zieht, ist die Stadt an der Düna nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte des Zarenreiches und im Aufbruch: 1873 wird hier das erste lettische Liederfest veranstaltet, zwischen 1850 und 1890 findet das Nationale Erwachen der intellektuellen “Jungletten” statt. Das öffnet ihnen in einem Land mit deutschen Schulen Hochschulen erstmals den Zugang zur Universität. In der Rigaer Neustadt entstehen anstelle der alten, kleinen Holzbauten ganze Jugendstil-Straßenzüge: Erker, Türmchen, Balkone und Säulen, runde und elliptische Fenster, Medusenhäupter und Sphingen, tragische und dämonische Masken, Löwen und Volkshelden, Blumen und Blätter, Vasen und Amphoren, Karyatiden und Atlanten. Vor allem der Architekt Michael Eisenstein (1867 – 1921), Vater des berühmten Filmregisseurs Sergej Eisenstein, schmückt damit Anfang des 20. Jahrhunderts die Fassaden, damit der Alltag zum Fest der Sinne werde, jenseits vom Dröhnen der Industriebetriebe und des modernen Verkehrs.

Es sind bewegte Zeiten. Vorm Umzug in die Stadt erlebt Maria in Schmucken den größten Schreck ihrer Kindheit,  “als ein Gendarm mit bloßem Säbel in unser Kinderzimmer drang und nach Revolutionären suchte. Meine Eltern waren nicht da, nur die Gouvernante.“ Der Gendarm hat wohl nach lettischen Revolutionären gesucht. Während der sogenannten Vorrevolution von 1905 begehren diese vornehmlich gegen den deutschbaltischen Adel auf. Hunderte von Gutshöfen gehen in Flammen auf, viele Gutsbesitzer werden ermordet. 1942 schreibt in “Deutsche Lande/Deutsche Kunst – Baltenland” Niels von Holst “1905 – 06 Unruhen lettischer und estnischer von Russen verhetzter Banden; Ausschreitungen gegen den deutschen Volksteil”. Die Deutschen seien Zaren-freundlich gewesen, erklärt die in Riga geborene Ivy Lohff, und die Vorrevolution habe den Aufstieg der Letten, Liven und Esten befördert. Eine andere Lesart lautet, dass die Letten, die bis ins 19. Jahrhundert hinein in ihrer Heimat eine untergeordnete Rolle spielen, Anfang des 20. Jahrhunderts nach Emanzipation streben, dass sich wie heute andernorts in Europa jahrhundertelange kulturelle und wirtschaftliche Unterdrückung Luft macht  – und Maria, flapsig geschrieben, keine Revolution auslässt (siehe “Der karierte Koffer fährt nach Kasachstan”).

Sophie, Maria und Christoph Poetschke in Riga

Bei von Holst heißt es: “Herbst 1914 Nach Ausbruch des Weltkriegs brutale Unterdrückung des deutschen Volksteils durch die zaristischen russischen Behörden – 1915 – 1918 Freudig begrüßte fortschreitende Besetzung des Landes durch deutsche Truppen – Dezember 1918 … Errichtung einer bolschewistischen Schreckensherrschaft in Riga – Frühjahr 1919 Kämpfe deutscher Freiwilligenverbände und deutscher Freikorps gegen die Bolschewisten (Eroberung von Riga im Mai)”. Die Bolschewiken kämpfen also gegen die Baltische Landeswehr. So heißt von 1918 bis 1920 ein militärischer Verband, der zum Großteil aus deutschbaltischen Freiwilligen besteht. Hundert Jahre später erzählt Theologin Lohff von christlichen Märtyrern wie Marion von Klot. Die dichtet im Rigaer Zentralgefängnis das christliche Lied  “Du weißt den Weg” und singt es ihren Mitgefangenen jeden Abend vor, bis zum 22. Mai 1919, dem Tag ihrer Erschießung durch die Bolschewiken und der Befreiung Rigas durch die baltische Landeswehr. Marion von Klot wird erschossen, weil ihr Bruder Offizier in der Landeswehr ist. Die Familie Poetschke überlebt zu jener Zeit in Sibirien eher schlecht als recht zwischen den Fronten und schließlich stellen “die Roten” sogar die Rettung dar (siehe: “Der karierte Koffer fährt nach Kasachstan”).

 

Wachsamkeit ist am Platze oder Lai dsiwo Latvija!

Die lettischen Revolutionäre schaffen es für kurze Zeit. Bis 1938 ist Lettland unabhängig. O-Ton von Holst: “1919 – 1939 Errichtung der Staaten Lettland und Estland…zahlreiche Maßnahmen gegen den zu einer “Minderheit” herabgedrückten deutschen Volksteil (Enteignung der landbesitzenden Deutschen usw.)” Ivy Lohff gibt diesem Kapitel die Überschrift: “Lai dsiwo Latvija!” Das bedeutet: Es lebe Lettland. Mit ihrem amerikanischen Vornamen – er bedeutet Efeu und stammt aus einem international ausgerichteten baltischen Namenskalender, der werdenden Eltern außer amerikanischen russische, deutsche, lettische und schwedische zur Auswahl anbietet; einer Großmutter, die den schwedischen Nachnamen Johanson trägt; einem Großvater, der dem Zar als Steuereintreiber dient; dem polnischen Mädchennamen Zinowsky; lettischer Staatsangehörigkeit und deutscher Volkszugehörigkeit wächst in einer Zeit mit wachsendem Deutschenhass auf, in der es heißt: “Lettland den Letten!” Sie erinnert sich an ihre ersten sechs Lebensjahre in Riga, an den Weihnachtsmarkt mit seiner “Explosion von Farben, Licht, Düften am frostigen Winterabend” und fragt sich, ob der erste Christbaum Europas wirklich nahe des Schwarzhäupterhauses stand, wie eine Bodeninschrift dort angibt. Auch zu dieser Periode existieren unterschiedliche “Erinnerungen” – heute würde man es “Storytelling” nennen: “Sommer 1940. Einverleibung der ehemaligen Staaten Lettland und Estland in die Sowjetunion”, heißt es 1942 in “Baltenland” bei Niels von Holst. “Das Zwischenspiel der sowjetrussischen Herrschaft auf dem alten Reichsboden des Baltenlandes sollte nur kurz sein. Durch einen Siegeszug ohnegleichen wurde der russisch-asiatische Eindringling aus dem Ostseegebiet wieder vertrieben, auf dem Ordensschloss in Riga weht heute die Reichskriegsflagge”. Der Autor klingt erleichtert, weil 1937 die Gefahr bestanden habe, “dass durch die Mitwirkung scheinbar neutraler schwedischer Forscher Bestandteile der lettischen und estnischen “Auffassung” einer angeblich nicht rein deutschen Vergangenheit des Baltenlands unvermerkt hier und da ins deutsche Schrifttum übergingen. Doch ist Wachsamkeit auch heute noch am Platze.” Bezüglich der Wachsamkeit stimmt die Schreiberin überein. Damit aber nichts unvermerkt ins digitale Schrifttum übergeht: An der Ostseeküste haben seit Jahrtausenden Interessenten mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund das Ruder in die Hand genommen.

 

Eine Stadt namens Strand oder Tief über dem Baltikum

Ivy Lohff schreibt über Riga im Zweiten Weltkrieg: “Von 1940 – 1943 führten die Nazis ihre Schreckensherrschaft…97 Prozent der Juden wurden ermordet…Die historische Altstadt wurde schwer beschädigt.” Eine Abbildung in ihrer Broschüre “Verlorene Heimat Riga – Deutsches Baltikum 1200 – 1939” zeigt die Gedenkstätte Salaspils am Ort eines der Konzentrationslager bei Riga. Im Zweiten Weltkrieg wird die Stadt abwechselnd von Sowjets und Deutschen besetzt. Im Hotel Smuku Muiza erzählt Hausdame Santa am 14. Juni 2017, nachdem sie ein umfängliches lettisches Mittagessen aufgetischt hat, es handele sich um einen nationalen Gedenktag zur Erinnerung an die Deportation. von der Sowjetzeit und der Vertreibung nach Sibirien. Im Juni 1941 werden 115.000 lettische Familien nach Sibirien verschleppt. Nach Sibirien geht kaum jemand freiwillig, heißt es. Aber das ist eine andere Geschichte (siehe „Der karierte Koffer fährt nach Krasnojarsk“). Der Zweite Weltkrieg, Aussiedlung und Flucht dezimieren die lettische Bevölkerung um fast ein Drittel, Sowjetbürger aus dem Osten werden angesiedelt. Nachdem Lettland 1991 seine Unabhängigkeit wieder erlangt, sind knapp 60 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner Letten, die übrigen Weißrussen Ukrainer und Russen.

Maja ist Russin und sehr gut mit Lettin Santa befreundet. Sie bringt den karierten Koffer, vorbei an den Storchenfamilien von Remte, nach Saldus zum Bus. Bei Sonnenschein geht es durch eine wunderschöne Hügellandschaft und die sumpfige Niederung am Rigaischen Meerbusen. Die baltische Natur würdigt auch Ivy Lohff  in ihrer kleinen Ausstellung im Hamburger Nyegaard-Stift. Ihre Bilder und Geschichten hängt sie für die anderen Bewohnerinnen des Stiftes auf, weil für die meisten Zeitgenoss*innen gilt: “Aus dem Baltikum kommt nur das Wetter, die Hochs und die Tiefs.” Das sei das Einzige, was sie davon wüssten. Da schafft die Dame aus Riga Abhilfe. “Das Rauschen von Meer, Wind und Bäumen” habe sie über die Jahre in ihrem Inneren verwahrt, schreibt sie in ihren Erinnerungen an den Rigaer Strand. Dort gibt es noch immer zauberhafte Datschen, die bewundern auch die Ostseeschützer. Die Theologin erinnert sich “an den Abschied von der geliebten Heimat”, an den Strand und die Kiefernwälder, die “Melodie der Kindheit an heißen Sommertagen in Bilderlingshof” (heute Bulduri, Jūrmala). Jurmala bedeutet Strand und

der erstreckt sich über etwa 40 km nordwestlich von Riga entlang der Küstenlinie und setzt sich von West nach Ost aus den Teilorten Ķemeri, Jaunķemeri, Sloka, Kauguri, Vaivari, Asari, Melluži, Pumpuri, Jaundubulti, Dubulti, Majori, Dzintari, Bulduri, Lielupe und Priedaine zusammen. Der Ortsteil Bulduri hieß früher Bilderlingshof und war vor 1914 der bevorzugte Sitz der deutsch-baltischen Intelligenz, des Geld- und Blutadels. An diesem festen, scheinbar unendlichen und damals noch unentdeckten Sandstrand hinter der Dünenkette – unentdeckt, weil er zu Sowjetzeiten innerhalb geschlossener Gebiete liegt – hören die Ökologen 1989 von Badeverboten.

 

Blumen für Milda oder Der Rhabarberstreusel

2017 hat sich die Wasserqualität in Jurmala gebessert. Der Koffer fährt durch nach Riga und bleibt dort in der Gepäckaufbewahrung. Seine Trägerin findet ein Café und schreibt: „Riga boomt. Die sorgfältig restaurierte Altstadt gehört seit 1997 zum UNESCO Weltkulturerbe. Bin vom Busbahnhof über den Merkela bulvaris in einen Park namens Vermanes darzs geraten, zu einem Café, das Bibliothek Nr. 1 heißt und keine Backwaren, aber sensationell zuvorkommende Kellner hat. Einer von ihnen schickte mich auf den Brivibas bulvaris, er führt von Rigas Alt- zur Neustadt”.

Ein paar Monate später lauscht sie Ivy Lohff, die von genau dieser Straße erzählt, die so oft ihren Namen wechseln musste: “Zar-Alexander-Boulevard” – “Brivibas iela” (Freiheitsstraße) – “Leninstraße” – “Adolf-Hitler-Boulevard” – “Leninallee” – “Brivibas bulvaris” (Freiheitsboulevard). Dort steht das Haus ihrer Kindheit. Der Freiheitsboulevard führt zum 1935 errichteten Freiheitsdenkmal (Brivibas piemineklis). Als monumentale Nachfolgerin von Peter dem Großen hält auf der Säule seitdem die  “Mutter Lettlands”, nach der Frau ihres Schöpfers auch Milda genannt, drei goldene Sterne in die Höhe. Sie verkörpert die unabhängige Republik Lettland, die Sterne leuchten für die drei Landesteile und historischen Landschaften Vidzeme (Livland), Kurzeme (Kurland) und Latgale (Lettgallen). Wie durch ein Wunder, vielleicht dank ihres Pathos, hat Milda die Sowjetzeiten überlebt, für die Letten ist sie bis heute von größter Bedeutung und es liegen ihr immer frische Blumen zu Füßen.

“Gleich um die Ecke liegt im Bastejkalns-Park, am Grüngürtel entlang des Stadtkanals, die Nationaloper. Das blendend weiße klassizistische Gebäude wurde 1863 als Deutsches Theater erbaut, vielleicht war Maria ja mal dort. Habe ein Café mit Kuchen gefunden, mit Rhabarberstreusel”, schreibt die hungrige Reisende.

 

Von Rundstücken und Sehnsuchtsorten oder Es brodelte

Neben dem Dom gräbt man Überreste von Holzschiffbau und Bernsteinschnitzerei aus. In sehr alter Zeit befindet sich dort ein kleiner Hafen livländischer Fischer. Von hier werden Pelze, Honig und Bernstein nach Byzanz und Samarkand geliefert, aus dem Orient kommen Wein, Seide und Gewürze. Zwischen beschaulicher Altstadt und hektischer Hauptstraße liegen nur wenige hundert Meter, aber 700 Jahre Geschichte. Anfang des 13. Jahrhunderts landet ein Bischof mit Kreuzfahrerheer an der Flussmündung. “Riga wird 1201 vom Bremer Domherren Albert von Buxhövede gegründet und Livland vom Schwertritterorden missioniert. Es erhält die Bezeichnung: Marienland”, schreibt Ivy Lohff. Einer ihrer “Sehnsuchtsorte” in Riga ist das Hospiz der Grauen Schwestern: “Heute ist Konventa Seta ein gepflegtes Gästehaus mitten in der City”.

Im Herzen der Altstadt befindet sich eines der ältesten Stadtviertel – der Konventhof. Anfang des 13. Jahrhunderts errichtet der Schwertbrüderorden hier seine Ordensburg, die von den Rigensern im Jahr 1297 zerstört wird. Als der Orden sich 1330 eine neue Residenz baut, erhält der Konvent zum Heiligen Geist die ehemalige Ordensburg und bringt dort ein Armenhaus unter. So entsteht der Name „Konventhof”. Seit dem Jahr 1554 befinden sich im Konventhof nur noch das Armenhaus, Wohnhäuser und Speicher. Anfang des 18. Jahrhunderts entsteht die derzeitige Komposition des Gebäudekomplexes. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verfallen die Gebäude langsam, 1994 erfolgt in n enger Zusammenarbeit zwischen lettischen und deutschen Architekten und Bauleuten die Restaurierung des historischen Ensembles, in dem sich heute das Hotel „Konventa Sēta” mit seinen neuen Häusern – Schwarze Taube, Bunte Taube, Schmiede, Stall, Kampenhäuser Haus, Gartenhaus, Haus der Grauen Schwestern, An der Mauer und An der Klosterpforte befindet. Auf ihrem nächsten Bilderbogen geht es weiter mit der Hansestadt, denn rund 80 Jahre nach ihrer Gründung durch den Bremer Bischof tritt Riga dem Städtebund bei. In der “frisch gebackenen” Hansestadt Riga errichtet man seinerzeit Kirchen, Kontore, Speicher, Bürger- und Gildehäuser. In den Gilden, zu denen Letten und Liven keinen Zugang haben, sind deutschstämmige Kaufleute, Juweliere, Schriftgelehrte und Handwerker organisiert. Die Schwedenzeit in Riga – an sie erinnert unter anderem das Schwedentor – dauert 90 Jahre.

König Gustav Adolf von Schweden begünstigt die Reformation. Luther und seine Anhänger haben im Baltikum quasi freie Bahn. Die Reformation breitet sich in Riga schon ab 1523 aus und Luther widmet “seinen lieben Christen in Riga und Livland” die Auslegung des 127. Psalms. Als im Jahr 1710 die Truppen des Zaren die seinerzeit schwedisch-livländische Riga einnehmen, ist es ein schon halbes Jahrtausend lang deutsch geprägt. Die Stadt und ihre Ritterschaft versprechen Zar Peter die „freiwillige“ Unterwerfung unter seine Herrschaft, er garantiert ihnen die Fortführung ihrer städtischen Selbstverwaltung und lässt als Bewunderer deutscher Architektur eine abgebrannte Kirche wieder aufbauen. Deutsch bleibt bis 1891 Amtssprache und Rigas Gesetzgebung ist dem Hamburger Stadtrecht nachempfunden. Der hanseatische Einfluss zeigt sich noch in Ivys Kindheit: Wie in Hamburg heißt in den 1930er-Jahren in Riga das Brötchen Rundstück und die saure Sahne Schmand. Auch die “kategorische Russifizierung”, die unter Zar Alexander II beginnt und besonders das Schul- und Bildungswesen betrifft, wirkt sich später auf Ivys Kindheit aus. In der Schule wird russisch gesprochen und die orthodoxe Kirche ist auf dem Vormarsch. Sie berichtet, dass in Rigas “Moskauer Vorstadt” Katholiken, Juden und Russen wohnen. “Der kommt wohl aus der Moskauer Vorstadt”, gilt unter den übrigen überaus standesbewussten Städtern als Beschimpfung, dieser Stadtteil als Slum. Die Russifizierung habe sich aber nicht durchgesetzt, erklärt Ivy Lohff. “Es brodelte” nach ihren Worten.

 

Stromaufwärts nach Moskau oder Das Brot des Lebens

Mehr als 300 Jahre später flaniert die Kofferträgerin ohne Gepäck und schreibt dann: „Bin durch die Altstadt zurück zu den Bahnhöfen und dem Zentralmarkt gelaufen. Riga ist teuer, günstiger versorgt man sich auf dem Zentralmarkt mit seinem bunten Angebot von Käse, Honig, Pilzen, eingelegten Gurken, Früchten, frischen Fischen, ganzen Schweinen, Schuhen, Kitteln, Jeans und Reisetaschen. Der Centraltirgus besteht aus fünf Markthallen und unzähligen Ständen drumherum. In den Hallen, in deren Architektur Jugendstil und Neoklassizismus anklingen sollten, wollte die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg eigentlich Zeppeline bauen. Die Zeppelinhallen werden seit 1930 als Markthallen benutzt. Als Maria nach Riga zog, wurden sie wahrscheinlich gerade errichtet… Ivy erinnert sich an den Zentralmarkt mit seinen Hallen: “Sie waren ursprünglich für Zeppeline gebaut. Seinerzeit galten sie als erstklassige Kaufhäuser Europas mit Hallen für Fleisch, Gemüse, Obst, Blumen usw. Mit Aufzügen, Laboratorien und Gefrierräumen.” Sie schreibt auch vom “Rigaer Schwarzbrot – bestes Brot meines Lebens!” Und die Kofferträgerin notiert:” Ich habe Sauerteigbrot, sehr leckere Dauerwurst, Tomaten und Gurken geholt…In den Zug nach Moskau gestiegen bin ich wie meine Großmutter 100 Jahre zuvor an der Centrala Stacija, nur dass das damals Hauptbahnhof hieß.” Maria ist im zarten Alter von 14 Jahren auf der  Bahnstrecke Riga-Moskau an der Daugava stromaufwärts gereist, ebenso wie ihre Enkelin 100 Jahre später.

 

Hauptt Statt in Lifflantt oder Starkes Mütterchen

Die Daugava beziehungsweise Düna – auf des Koffers Reise Fluss Nummer zwei – hat ihre Stadt geprägt. Die ehemalige “Hauptt Statt in Lifflantt präsentiert sich vom Strom her am eindrucksvollsten.

So sah das Stadtpanorama aus, als Maria mit ihrer Familie nach Riga zog.

Der Fluss ist zum großen Teil schiffbar und seit dem 8. Jahrhundert ein bedeutender Handelsweg, auf dem man ohne große Schwierigkeiten an die Flusssysteme der Wolga und des Dnepr gelangen kann und eine der Routen ans Schwarze Meer.  So war er jahrhundertelang die Verbindung zwischen dem russischen Kernland und den westlichen Handelshäusern. Auf deutsch heißt der mehr als 1000 Kilometer lange Strom Düna. Die Bezeichnung Daugava geht auf den Wortstamm “daudz” und “ūdens” zurück und bedeutete ursprünglich etwa “großes Wasser” oder “starker Strom”. Für die Letten ist der Strom ein nationales Symbol und wird unter anderem als „Daugaviņa māmuliņa“, als Schicksalsfluss und als Mütterchen besungen. Das „Mütterchen“ entspringt in Russland im gemeinsamen Quellgebiet von Daugava, Dnjepr und Wolga nahe der Wolgaquellen, strömt durch das nördliche Weißrussland, bevor es Lettlands Südosten erreicht und dort durch Daugavpils und Jekabpils zum Rigaischen Meerbusen fließt.

Im Rigaer Stadtteil Daugavgriva (dt. Dünamünde) mündet die Daugava in die Ostsee. Riga ist immer Ost-West-Schnittstelle. Dem “Mütterchen” werden 1936 – 1940 Stausee und Wasserkraftwerk bei Ķegums verpasst, der zweite Stausee mit Wasserkraftwerk entsteht – trotz heftiger Proteste der lettischen Bevölkerung – von 1959 bis 1968 bei Pļaviņas, der dritte mit Wasserkraftwerk bei Salaspils nahe Riga wird 1974 fertiggestellt. In den 1980er-Jahren setzen sich die Letten massiv für ihr  “Mütterchen” ein. Sie kämpfen gegen ein von Moskau geplantes viertes Wasserkraftwerk bei Daugavpils (Dünaburg) 200 Kilometer flussaufwärts von Riga. In dem gewaltigen Stausee wäre ein gutes Stück lettische Landschaft mit ihren Kulturdenkmälern versunken. Der Staudammbau wird 1987 gestoppt. Die Proteste bezeichnen den Beginn einer nationalen Bewegung. Im Herbst 1988 wird die lettische „Volksfront“ gegründet, eine ihrer größten Gruppen ist der „Club zur Verteidigung der Umwelt“ (Vides Aizsardzíbas Klubs, VAK), der im selben Jahr Wissenschaftler und NGO auf das kurländische Schloss Edole einlädt und eine Menschenkette gegen die Ostseeverschmutzung organisiert. Diese Koalition von Umweltschutz und Unabhängigkeitsbewegung, die den internationalen Ökologen 1988 in Edole begegnet, die „ökologisch-regionalistische Bewegung“, wie Gisbert Mrozek in seinem Reisehandbuch “Riga – Stadt an der Daugava” sie bezeichnet, erringt und ersingt 1990/1991 die Unabhängigkeit Lettlands.

„It was a pleasure to meet you and get to know. We are waiting for you to visit in person Latvian in our familys. Not often you get to meet so positive people​. Thank you very much.“ Schreibt Santa und die Empfängerin der Mail schreibt: “paldies! (danke auf Lettisch); спасибо (danke auf Russisch); Thank you!” und  ist mit ihrem karierten Koffer unterwegs nach Moskau.