15 Dez

Der karierte Koffer fährt nach Cölln

Die Gnädige will Frikassee oder Geschminkte Knie
Fürs Knabenhafte ist ihre Statur nicht geschaffen, aber die Gürtellinie hängt locker auf der Hüfte. Darunter trägt Elisabeth Holub – bei den Hausangestellten heißt sie „die Gnädige“, spätere Enkel nennen sie mit respekt- und gefühlvoller Distanz „die Amama“ – vielleicht Wäsche, die sich auch beim Tanzen bewährt, wie den kürzlich erfundenen Büstenhalter. Die Strümpfe befestigt sie am Hüftgürtel. So ein Kleidungsstückchen bindet sich ein halbes Jahrhundert später Urenkelin Vera zur Tanzstunde widerwillig unter den Minirock. Amamas Kleider enden ein Stück unterhalb des Knies, dieses ist aber beim Tanzen möglicherweise zu sehen, weshalb manch eine sich ihrerzeit die Beine schminkt. Schminken ist neben der Abschaffung des Korsetts eine Neuerung die Aufsehen erregt, war es bisher doch Schauspielerinnen und Prostituierten vorbehalten. Die Gnädige schminkt sich wohl nicht die Beine. Sie bevorzugt sicher echte Seidenstrümpfe und muss auch nicht zur Kunstseide greifen wie Irmgard Keuns „Kunstseidenes Mädchen“. Ihre Urenkelin lauscht Kurzgeschichten aus der Brüderstraße in Alt-Cölln, aus der „Beletage“. Dieses vornehme Wort schlägt sie erst Jahrzehnte später nach. Es meint die am besten ausgestattete Wohnung im gutbürgerlichen Hause, das schöne Geschoss. Eines der drei Meter hohen Zimmer in Elisabeths schöner Etage ist Ballkleidern und Karnevalskostümen vorbehalten.

In ihren willensstarken, aufbrausenden Momenten kriegt Vera manchmal vorwurfsvoll zu hören: „Du bist wie die Amama!“ Die ordert beziehungsweise fordert auch mal am späten Morgen zum Mittag spontan Hühnerfrikassee mit allen Zutaten. Bezüglich des Nachkochens von originalem Berliner Hühnerfrikassee fragen Sie bitte Ihre Ärztin oder Apothekerin. Vor der Wirtschaftkrise gilt es noch nicht als unfein, Kälber zu verzehren. Man wirft aber auch nichts vom geschlachteten Tier weg, sondern nimmt für acht Personen eine ein halbes Kilo schwere Kalbszunge, zu der gibt man in einem großen Topf eine zerteilte Zwiebel, Suppengrün und Salz, bedeckt sie mit Wasser, bringt es bei großer Hitze zum Kochen, stellt die Flamme klein, deckt den Topf halb zu und lässt die Zunge zwei Stunden köcheln, bis sie mit der Spitze eines scharfen Messers angestochen werden kann, häutet sie, solange sie noch warm ist, schneidet sie in 1 cm große Würfel. Desweiteren müssen nach Originalrezept – rechtzeitig – „ein Paar Kalbsbrieschen“ zubereitet werden. Bries wird küchensprachlich die paarige Thymusdrüse genannt. Dieses im vorderen Bereich der Brust sitzende, etwa 250 bis 300 Gramm schwere, fast weiße Gewebe gehört wegen seiner Zartheit und des feinen Geschmacks zu den am meisten geschätzten Innereien, ist reich an Kalium und Vitamin C, aber auch an Purin, aus denen Harnsäure entsteht, die wiederum Gicht verursachen kann. Das weiß man in Zeiten, in denen das gesamte Tier verwertet wird, allerdings noch nicht und wässert die Brieschen zwei Stunden, wobei man das Wasser alle 30 Minuten wechselt, wässert dann eine weitere Stunde in saurem Wasser (1 EL/l), zieht vorsichtig so viele Häute ab, wie es gelingt, ohne die Brieschen einzureißen, kocht sie mit Salz und Zitronensaft etwa 20 Minuten, schneidet sie in Würfel und stellt sie beiseite. Hauptdarsteller des Frikassees ist ein Huhn von zwei Kilo. Man gibt es in einen sechs Liter fassenden Suppentopf mit mit Suppengrün, Petersilie und Salz, übergießt es mit zweieinhalb Litern kaltem Wasser, bringt es zum Kochen, deckt den Topf halb zu und kocht es zweieinhalb bis drei Stunden leise, lässt es solange abkühlen, bis man es anfassen kann, enthäutet es, schneidet das Fleisch in einen Zentimeter große Würfel und stellt es zugedeckt beiseite. Des Weiteren und gleichzeitig sind ein Pfund frischer Spargel, ein Pfund Krabben und ein halbes Pfund Champignons oder Morcheln zu besorgen und hernach zu schälen, zu pulen oder zu putzen. Dafür braucht man schon ein mittelgroßes Team. Die Pilze müssen in wenig Wasser mit Zitronensaft und Salz ungefähr drei Minuten garziehen. Oft gibt man auch Morcheln ins Frikassee. Eine halbe Tasse getrocknete Morcheln muss vier- bis fünfmal in frischem Wasser eingeweicht werden, um anhaftende Sandkörner abzuspülen, dann eine halbe Stunde in kaltem Wasser gewässert, noch einmal unter fließendes Wasser gehalten und ausgedrückt, zehn Minuten gegart werden. Man tropft sie ab und schneidet sie in Viertel. Für die Sauce schöpft man von der bereitgestellten Hühnerbrühe das Fett ab, lässt in einem zwei Liter fassenden Topf 90 Gramm Butter bei Mittelhitze zergehen, rührt 60 Gramm Mehl unter, löscht mit eineinhalb Litern Brühe ab und bringt die Sauce unter kräftigem Rühren zum Kochen, lässt sie bei Mittelhitze noch fünf Minuten köcheln, verrührt drei Eigelbe mit einer Gabel, gibt eine halbe Tasse Sauce zu, schlägt die Eigelbmischung in den Topf, kocht unter ständigem Rühren 30 Sekunden lang auf, nimmt den Topf vom Feuer und schmeckt mit drei Esslöffel frischem Zitronensaft ab. Dann vereinigt man in einem großen, schweren Topf Sauce, Zunge, Brieschen, Hühnerfleisch, Krabben und Pilze – ohne den Saft, der sich eventuell bei den einzelnen Zutaten angesammelt hat, gibt zuletzt den Spargel dazu, rührt vorsichtig, aber gründlich mit einem großen Löffel um, schmeckt ab, lässt bei Mittelhitze das Frikassee heiß werden und serviert es direkt aus dem Topf. Für ihre anstrengenden Auftritte entschuldigt sich die Herrin der Cöllner Beletage sich später wortreich und kauft zur Reparation auch mal Tanzschuhe für alle. So ist die Amama. (Das Foto zeigt sie bei ihrem Bruder in Venedig. Zuhause ist sie in den 1920ern in Alt-Cölln mitten in der neuen Mitte von Berlin)

Tumult an der Spree oder Bürgermeister im Schlafpelz
Vierhundert Jahre später weht hier ein etwas anderer Geist. In der Brüderstraße kommt es zu Auseinandersetzungen. Anhänger der reformierten Kirche, zu denen auch der derzeitige Kurfürst gehört, wenden sich vehement gegen „Unflat“ in der alten Pfarrkirche am Petriplatz, wie die Skulptur eines “hurenden” Paares, und geraten so mit den etwas lockereren lutherisch Orthodoxen und deren beliebtem Prediger in der Petrikirche aneinander, die sich beim „Berliner Tumult“ gegen die rigide fürstliche Kirchenpolitik auflehnen. Als der Prediger von der geistlich-weltlichen Obrigkeit bedrängt wird, versammeln sich vor dessen Haus in der Brüderstraße empörte Bürger, um ihn zu verteidigen. Seine Frau schenkt Bier aus, die erregte Menge wirft Steine in die Häuser der reformierten Prediger, der kurfürstliche Statthalter kommt mit acht Reitern vom Schloss herüber, um für Ruhe zu sorgen. Da glaubt die auf mehr als 500 Personen angewachsene Menge, er wolle ihren Prediger verhaften. Schüsse fallen, jemand läutet die Sturmglocke der Petrikirche, nun eilen über die Spreebrücke auch Menschen aus dem benachbarten Berlin herbei. Es ist Nacht geworden, der Statthalter lässt den Cöllner Bürgermeister wecken, damit er die Leute beruhige, doch dessen Anblick im Schlafpelz erregt sie nur noch mehr. Auch am folgenden Tag klingt die Empörung in der Brüderstraße nicht ab, die Wortführer stoßen Drohungen gegen das Schloss aus. Als der Kurfürst von der Jagd zurück kehrt, stellt er mit einer starken militärischer Besatzung in die Ruhe im Quartier zwischen Schloss und Kirche erst einmal wieder her. Aber langfristig kehrt zwischen Obrigkeit und „Untrigkeit“ keine Ruhe ein. Als Kurfürst Friedrich III. sich zum König krönt, verleibt er Cölln seiner Haupt- und Residenzstadt Berlin ein. Und als in dieser die Hausdiebstähle zunehmen, gibt der den Befehl, den ersten Schuldigen ohne Weiteres vor dem Hause zu aufzuhängen, in dem er das Vergehen begangen hat. In der Brüderstraße 10 wird eine Dienstmagd, die einen silbernen Löffel gestohlen haben soll, am Galgen erhängt. Später stellt sich ihre Unschuld der Bediensteten heraus, als der Löffel sich wieder anfindet. Das Wohn- und Amtsgebäude mit der Nummer 10, in dem vor allem kirchliche Würdenträger ein- und ausgehen, wird seither Galgenhaus genannt.

Die selbstbewusste Vordenkerin und der Meister der Medien
Zwei Häuser weiter verkehren derweil Vordenker. Sie sind mit dem Absolutismus nicht einverstanden. Absolut bedeutet „losgelöst“. Die Kunstform der losgelösten Alleinherrschaft ist der Barock mit seiner üppigen Prachtentfaltung. Das barocke Bürgerhaus in der Brüderstraße 13, genannt das Happesche Haus, wird im 16. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt, später von Johann Stridbeckh verewigt (siehe unten: Das Happesche Haus in der Brüderstraße im Jahr 1690, Johann Stridbeck the Younger: „Prospect in der Brüder=Strassen zu Cöllen an der Spree.“: das zweistöckige Gebäude neben dem mit der Nummer 3), im 18. Jahrhundert befindet es sich im Besitz hochrangiger Militärs und Minister, dann wird es mit einem dritten Stockwerk versehen und zum repräsentativen Adelspalais ausgebaut. Das kauft Christoph Friedrich Nicolai und lässt es für Verlag, Buchhandlung und Privatwohnung umbauen. Hier zieht „ein Vater der Aufklärung und Vorreiter des selbstbewussten Bürgertums“ein, wie die viel spätere Hauseigentümerin, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, schreibt, ein Mann, der Berlin geprägt habe. „Nicolai war ein früher Meister der Medien- und Kommunikationsgesellschaft, dem es gelang, in der Brüderstraße eine Begegnungsstätte für Politiker, Wissenschaftler und Intellektuelle zu gestalten – ein Forum des politisch selbstbewussten Bürgertums.“ Beim Verleger, Buchhändler und Schriftsteller laufen die Fäden der Berliner Aufklärung zusammen, hier treffen sich Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottlieb Fichte und andere, die mit der Kraft des Wortes die Gesellschaft verändern wollen. Auch eine der wenigen Vordenkerinnen findet sich in dieser Keimzelle der Demokratie ein, Elisabeth Charlotte Constanzia von der Recke. Geboren wird die Dichterin 1754 in Kurland (siehe „Der karierte Koffer fährt nach Kurland“). Nach dem frühen Tod der Mutter verbietet die Großmutter dem Mädchen das Lesen von Büchern, später sorgt ihre Stiefmutter für eine gewisse Allgemeinbildung. Auf einen Schlag bekannt wird Von der Recke mit der „Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779 und dessen magischen Operationen“ in der sie mit dessen hochstaplerischen Umtrieben und amourösen Vorstößen ihr gegenüber abrechnet. Zarin Katharina die Große wendet der Autorin in Anerkennung dieser Streitschrift lebenslang Erträge aus einem Gut in Kurland zu. Damit ist Elisa von der Recke finanziell unabhängig, bereist Europa und lernt Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Anton Graff – beide Maler porträtieren sie (linkes Porträt: Tischbein; rechtes Porträt: Graff); Friedrich Gottlieb Klopstock, Carl Philipp Emanuel Bach, Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven kennen. Letzterer komponiert von der Recke möglicherweise „Für Elise“, sie ist aber nur eine der denkbaren Widmungsempfängerinnen. 1814 und 1815 wohnt die Aufklärerin mit ihrem Lebensgefährten, dem Dichter Christoph August Tiedge, im Nicolaihaus in der Brüderstraße 13, das man nun auf Grund der Autorendichte den „Dichterwinkel Berlins“ nennt.

Waaren-Handlung für feine Damen oder Zwischen Dichterwinkel und Galgenhaus
Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Brüderstraße zum Wirtschaftszentrum. Händler und Handwerker Lassen sich hier nieder, eröffnen unter anderem eine Weinhandlung, eine Stickereimanufaktur, eine Schriftgießerei und die „Italiener Waaren-Handlung“ mit Angeboten rund um die Schönheit, den Treffpunkt der „feinen Damen“ von Cölln. Rudolph Carl Hertzog gründet 1839 eine „Manufactur-Waaren-Handlung“. Die Stadt macht in diesen Jahrzehnten mit Konfektion und Mode Furore, durch Versandhamndel macht Hertzog sein Geschäft zur überregional bekannte Toppadresse nicht nur für Kleidung, auch für Stoffe, Teppiche und Möbel und lässt jährlich eine „Agenda“ den dicken Jahreskalender von „Kaufhaus Rudolph Hertzog“. Das ist das größte von Berlin und erstreckt über das gesamte Karree zwischen Breiter Straße und Brüderstraße. (Die Postkarte zeigt das Kaufhaus um 1900 Von Unbekannt, gemeinfrei). Gegenüber entsteht 1905 ein viergeschossiges Kontorhaus. Es sieht  ein wenig nach dem Barock der Nachbarhäuser und ein wenig nach Jugendstil aus. Sieben Achsen gliedern die Fassade, ein geschwungener Giebel betont die mittlere. Dort oben steht unter Schnörkeln Berlinische Feuer-Versicherungs-Anstalt“. Die Genehmigungsurkunde von König Friedrich Wilhelm III. zur Gründung dieser Anstalt stammt von 1812. Allgemeine gesetzliche Regelungen zur Gründung von Aktiengesellschaften gab es in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht. In Preußen bedurften sie in jedem Fall einer besonderen Genehmigung durch den König, erst 30 Jahre später wird das Aktienrecht gesetzlich geregelt. Und zur nächsten Jahrhundertwende ist die vornehme Adresse Brüderstraße 11 – 12 genau die richtige für die Aktiengesellschaft. Hier, zwischen „Dichterwinkel“ und „Galgenhaus“ regiert dann im ersten Stock hinter hohen Fenstern die werdende Amama, noch ist sie weder Großmutter noch Schwiegermutter. Das Nachbarhaus zu ihrer Rechten, das Nicolaihaus beherbergt das Lessing-Museum. Damit ist die Brüderstraße 13 weiterhin Standort der Dichter und Denker sowie Brutplatz für literarische und musikalische Ideen. Als Probstei der Petrikirche dient das andere Nachbarhaus der Feuer-Versicherungs-Anstalt. Elisabeth Holub ist mit dem Generaldirektor der Anstalt verheiratet, weshalb sie offiziell auch Frau Generaldirektor hei

Ankommen mit Klein-Trudel oder In der Badewanne nach Berlin
Ihr Gatte Peter Holub, geboren im Böhmischen, tanzt ein bisschen aus den Seiten seines Stammbuches. Darin findet man eher naturkundlich Interessierte wie Onkel Emil, einen Afrikaforscher, der in Prag Medizin und Naturwissenschaften studiert – siehe „Marlene fährt zum Wasserfall“ -, seinen Sohn Fritz, der nach ein paar Semestern Medizin ein Lazarett Sibirien leitet und seine 1920 geborene erste Enkelin Gertrud, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer hessischen Mansarde ihre Kinderarztpraxis eröffnen wird. Ein Foto aus ihrem Geburtsjahr zeigt den Großvater, von den Enkeln später Apapa genannt, mit Zwirbelbart, Kneifer, steifem Hemdkragen, perfekt gebundener Krawatte samt perlengeschmückter Nadel. Er erhält ein Telegramm: „Ankommen mit Klein-Trudel in Stettin“. Der Großvater lässt das Telegramm einrahmen und weist den Stettiner Bezirksdirektor der Berlinischen Feuerversicherungsanstalt an, er solle ein Hotelzimmer besorgen und die kleine Familie mit Namensschild vom Schiff abholen. Sie kommt nicht nach Stettin. Und das kommt so: Klein-Trudels spätere Mutter Maria macht sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges als in Russland unerwünschte Deutsche zwangsweise zum Onkel in Sibirien auf. Der ist Lehrer in Krasnojarsk. Dort arbeitet Maria dann in einer Apotheke, wo sie Fritz kennenlernt, siehe „Der karierte Koffer fährt nach Krasnojarsk“. Die Hochzeit ist bedingungslos einfach, es verschlägt das junge Paar nach Petropawlowsk, wo Trudels Vater im Kriegsgefangenenlazarett als „Doktor“ arbeitet und in der Einzimmerunterkunft eine Arztpraxis betreibt: „Wir hatten uns zu dritt eingelebt und das Leben ging so seinen Gang weiter“, vertraut Maria Holub Jahrzehnte, Revolutionen, Kriege und Fluchten später im hessischen Neu-Isenburg einem Kassettenrecorder an. „Der Alltag ging weiter…in seinem Trott, aber unsere Gedanken waren immer bei der Heimreise. Und da erfuhren wir zufällig, dass ein Transport nach Deutschland ginge. Fritz setzte sich sofort mit seinem Chefarzt in Verbindung wegen seiner Entlassung. Er bekam auch eine sehr gute Beurteilung und der Chefarzt schlug ihn vor als Leiter des Transports. Und das ging dann immer hin und her: Wird der fahren, wird er zusammengestellt oder nicht. Und dann war es soweit, …Fritz wurde als Leiter des Transports eingesetzt und wir bekamen dann auch im Zug ein eigenes Abteil zu dritt. Ich hatte eine kleine Badewanne mitgenommen, wo die Trudel gebadet werden konnten und auch nachts schlafen…. Aber wir waren alle belastet mit dem Gedanken: Wird es losgehen oder werden wir ausgeladen? Und als der Zug sich in Bewegung setzte, waren wir alle sehr froh, aber der Gedanke: Kommen wir jetzt wirklich nach Hause oder werden wir wieder irgendwo ausgeladen, hat uns die ganze Zeit begleitet. Nach zehn Tagen kamen wir dann in Moskau an und da wurden wir ausgeladen und nach einem Hin und Her hieß es dann, dass wir nach fünf Tagen nach Petersburg führen. Als wir dann in Petersburg ankamen, blieben wir wieder auf einem Gleis liegen, aber dann nach einem Tag hieß es, wir fahren morgen weiter nach Narwa, Narwa in Estland. Da wurden wir ausgeladen in der Festung. Da waren wir zehn Tage in Quarantäne. Und anschließend sollten wir auf das Schiff. Das Zubringerschiff war ein Frachter und da kamen die Männer in den Frachtraum und wir konnten auf dem Deck bleiben. Als wir am Schiff ankamen, da wurden wir in Kajüten untergebracht, die Ostsee war sehr lebhaft, so dass wir seekrank wurden, die Trudel hat das gut überstanden, das war ein Glück, dass ich sie stillen konnte. Auf dem Schiff erfuhren wir, dass wir in Stettin ankommen. Fritz telegraphierte seinen Eltern und sein Schwiegervater beorderte den Bezirksdirektor von der Berlinischen Feuerversicherung, dass er für uns ein Hotelzimmer besorgen sollte und mit einem Namensschild vom Schiff abholt. Aber es kam alles anders, wir landeten nicht in Stettin sondern auf der Insel Usedom. Da kamen wir wieder in Quarantäne, wir konnten da baden und wurden da angezogen. Am anderen Tag kamen meine Schwiegereltern herüber, die waren in Zinnowitz.“ Zinnowitz ist ein Ostseebad auf der Insel Usedom. Marias Schwiegereltern gehen in jenem Jahr nicht wie üblich in Bad Nauheim zur Kur, „sondern in der Ahnung, dass wir zurückkommen, waren sie an die Ostsee gegangen. Wir blieben auf Usedom … etwa zehn Tage, dann holten die Schwiegereltern uns ab….Nach einem Aufenthalt in Zinnowitz sind wir dann nach Berlin gefahren.“


Groß-Berlin ist im gleichen Alter wie Klein-Trudel, die neu geborene Metropole hat 1920 sieben Städte, an die sechzig Landgemeinden und knapp dreißig Gutsbezirke eingemeindet. Auf dem Foto ist sie im hochrädrigen Fahrzeug zu sehen und ihre Mutter Maria Holub (rechts). Man achte auf die Taille. Tonangebende Modemagazine sind , “die neue Linie”, “Die Dame” und “Elegante Welt” mit handkolorierten Modezeichnungen. Letztere informiert 1920 über den Bubikopf: “Als Neuestes kam vom Ausland her der Bubenkopf zu uns … Man schneidet ringsum die Haare an, wie sie früher kleine Knaben trugen”. Asta Nielsen tritt 1921 in ihrem Film “Hamlet” mit jungenhafter Ponyfrisur auf. Schriftsteller Heinrich Mann ist angetan: “Den Männern gefällt die kurze Haartracht, aber sie sind nicht gefragt worden”, schreibt er. “Kurze Haare durften nicht ausbleiben, nachdem die Figur der Dame knabenhaft geworden war. Hiervon abgesehen lässt es sich damit besser sowohl tanzen als auch Sport treiben wie auch in Fabriken arbeiten.“ Die deutsche Vogue schwärmt 1922: „Schöne Berlinerin, du bist tags berufstätig und abends tanzbereit. Du hast einen sportgestählten Körper, und deine herrliche Haut kann die Schminke nur erleuchten. Mit der Geschwindigkeit, mit der deine Stadt aus klobiger Kleinstadt sich ins Weltstädtische mausert, hast du Fleißige schöne Beine und die nötige Mischung von Zuverlässigkeit und Leichtsinn, von Verschwommenheit und Umriss, von Güte und Kühle erworben.“ So steht es in Birgit Haustedts Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen. Dort ist auch Claire Waldoffs Vorschlag zu lesen: „Rraus mit den Männern aus´m Reichstag – Und raus mit den Männern aus dem Landtag – Und raus mit den Männern aus dem Herrenhaus – Wir machen daraus ein Frauenhaus! Eigentlich heißt sie Clara Wortmann und stammt aus dem Ruhrpott, ist eines von 16 Kindern eines Gelsenkirchener Wirtes. In Berlin geht sie auf Kneipentour. Im Grunde ein Weiterbildungsprogramm, denn so erlernt sie den Jargon für Gassenhauer wie „Nach meene Beene is ja janz Berlin verrückt“. Mit ihrem Freund Heinrich Zille trifft sich die Waldoff nur ein paar Schritte von der Brüderstraße entfernt, in der Schänke „Zum Nussbaum“. Überm Kellereingang des mittelalterlichen Cöllner Hauses steht „1507“, sein Namensgeber ist auf Zilles Zeichnung zu sehen. Das Viertel auf dem Südzipfel der Spreeinsel wird Fischerkiez genannt, umfasst den Köllnischen Fischmarkt und neun rechtwinklig angelegte Gassen mit insgesamt 16 Namen, bleibt von der „City-Bildung“ rundherum ziemlich unberührt und gilt je nach Clique, Schicht und Herkunft als malerisch, als rückständig, als Arme-Leute-Viertel oder als angesagt.

Clara und Marie oder Weiblicher Stadtplan

Claire Waldoff versteht sich als Volkssängerin. “Wenn die großen Theater ihr Publikum in die Nacht entließen, dann ging auf anderen Bühnen erst das Licht an“. Sie tritt allabendlich um halb zwei im Linen-Kabarett auf. “Ich war die sogenannte Rosine im Programm der internationalen Weltstadt”. Die Kabarettistin mit der Berliner Schnauze ist ein großer Star der Zwanziger Jahre, als bekennende Lesbe verkehrt sie in Berlins ihrerzeit zahlreichen Damenclubs, unterhält mit ihrer Lebensgefährtin einen kulturell-politischen Salon für Gleichgesinnte, als politisch und sozial Engagierte singt tritt sie für Arbeitslose oder hungernde Kinder auf. Und sie nimmt Marie Magdalene Dietrich, geboren 1901 in Schöneberg, unter ihre Fittiche, wenn nicht in ihre Arme. 1926 entdeckt sie das 17 Jahre jüngere Talent, das sich mittlerweile Marlene nennt: „Wie scheen dat Kind is! Die Beene!“ – und als 60 Jahre später in Hamburg die Namensfindung für Amamas Ururenkelin ansteht, kommt ein Telegramm von der guten Freundin aus Berlin: „Hat Marlene denn scheene Beene?“ Der Polizeioffizier Dietrich legt Wert auf strenge preußische Erziehung. Seine Tochter Marie Magdalene lernt zu Hause Disziplin und Pflichtbewusstsein, außer Haus Geigen und Reiten. Innerlich glüht das Schulmädchen nach Filmstar Henny Porten: “Ich geh sicher noch mal zur Bühne. Es brennt sozusagen etwas in mir nach Henny Porten.” … Sie tritt in einer Revue auch mal mit Hans Albers auf, dort entdeckt sie Josef von Sternberg. Vorher gibt die Walldoff der Dietrich Gesangsunterricht und führt sie in Berlins „weibliche Topographie“ ein, wie Haustedt verrät Auf den Frauenbällen machen ihre langen Beine und ihre tiefe rauchige Stimme wahrscheinlich Furore. Und wahrscheinlich hat Marlene auch in Sachen Outfit von ihrer „besten Freundin“ gelernt. Claire Waldoff legt ihren ersten Auftritt in der Schuluniform des Eton-College hin, Marlene Dietrich wird ein paar Jahre später zur Stilikone. Hätte es Instagramm schon gegeben, wer weiß? Jedenfalls setzt sie jahrzehntelang immer wieder neue Trends, steigt aus der Geschlechterrolle in bisher Männern vorbehaltene Kleidungsstücke, zeigt sich in Anzug und Krawatte. Und ihre weit geschnittenen, hoch in der Taille sitzenden Stoffhosen werden bis heute als „Marlene-Hose“ kopiert. Der androgyne Kleidungsstil verleiht der Schauspielerin eine Ausstrahlung, die Frauen und Männer gleichermaßen anzieht. „Voller Selbstbewusstsein, zigarettenrauchend und gleichgültig gegenüber dem anfänglichen Gelächter des Publikums über ihre ungewöhnliche Kleidung, streift sie durch das Lokal und betrachtet die Menge durch einen Rauchschleier“, schreibt Donald Spoto in seiner Biografie.

Marlene hatte andere Pläne oder Neue Lebensstile
Aber das ist später, weltberühmt in Hollywood, nachdem sie Nazi-Deutschland verlassen hat. In den 1920er-Jahren spielt sie, meist als Statistin, in an die hundert Theateraufführungen, ihr Leinwanddebüt gibt Marlene Dietrich in der Rolle einer Zofe, als „Kartoffel mit Haaren“ bezeichnet sie sich selbst in ihrem ersten Film. Sie wirkt dann bei 18 Stummfilmen mit, sagt aber im Interview 1983: „Fragen Sie mich nicht über die Zwanziger Jahre. Ich war in den Zwanziger Jahren überhaupt nichts“. Tatsächlich baut die Preußin mit ihren „Ein-Satz-Rollen“ an ihrer Karriere, stellt sich „einfach auf die Bühne, rauchte eine Zigarette – sehr langsam und sexy – und die Zuschauer vergaßen darüber die anderen Schauspieler“, und macht in der Stadt der Freiheit, der Toleranz und der Avantgarde einen gutaussehenden Regieassistenten zum Vater, was sie nicht von ihren Affären abhält. Allerdings schwört sie nicht nur auf Männer und Frauen, sondern auch auf deftige Küche. „Marlene hatte andere Pläne“, singt ebenfalls in Berlin, fünfzig Jahre später Nina Hagen. Und in Hamburg studiert 1992 Grundschülerin Marlene studiert das zerknitterte schwarz-weiße Filmplakat, das die Diva zeigt: „So schön und schon tot!” In der kurzen Blütezeit zwischen zwei Weltkriegen, zwischen 1918 und 1933, habe Berlin als Experimentierfeld für neue Lebensformen und Lebensstile gedient, schreiben Michael Bienert und Elke Linda Buchholz in „Die Zwanziger Jahre in Berlin“ und die Weltkultur bereichert, heißt es dort und dann folgt die Aufzählung: “Berlin Alexanderplatz”, Georg Grosz, “Das Cabinet des Dr. Cagliari”, “Metropolis”, “Dreigroschenoper”. In die Volksbühne werden die Holubs wohl nicht gegangen sein. Die Stadt steigt zur führenden Filmmetropole Europas auf, schreibt Kinogeschichte: “Der Film belagert Berlin, Überläufer strömen ihm in Massen zu, und die völlige Kapitulation der Stadt ist nicht mehr weit“, meldet Alfred Polgar 1922. “Man könnte auch sagen, ein einziges Filmband umschlingt alle Völker Berlins, das stärkste seit die Dynastie gerissen ist. Seine Inschrift: Seid verschlungen, Millionen!” Die Hintergrundhelden von Schwarzweiß- und Stummfilm sind bis Ende der Zwanziger Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Josef von Sternberg, Friedrich Wilhelm Murnau und andere. Was könnten die Amama und ihre Schwiegertochter gesehen haben? “So sind die Männer” (1922) oder “Tragödie der Liebe” (1923), beide mit Marlene Dietrich, Langs “Nibelungen” (1924), Murnaus “Der letzte Mann” (1924). Im neuem Bezirk Mitte, zu dem nun auch Amamas Alt-Cölln gehört, konzipiert Hans Poelzig ein Stummfilmkino für 1200 Zuschauer im Stil der Neuen Sachlichkeit mit einem stufenförmigen Leuchtschild, das auf den Turmbau zu Babel anspielt, das Babylon. Und es entstehen in Berlins Zwanziger Jahren noch an die 50 weitere Filmpaläste, prächtige Lichtspielhäuser mit mehr als 1000 Plätzen. „Der Film brauchte das Massenpublikum der „Metropolis“, um sich zu einem Massenmedium zu entwickeln“, heißt es im CityGuide von Bücher- und Kofferträgerin Vera „Die Zwanziger Jahre in Berlin.“ Gehen Trudels Mutter und Großmutter so gerne uns Kino wie Trudels Nichte und Großnichte? Sehen sie sich zwischen 1920 und 1926 Stummfilme an? Bewundern sie Asta Nielsen, den ersten weiblichen Kinostar? Der lässt sich nicht festlegen, spielt gebrochene, leidende Frauen; Prostituierte; Tänzerinnen; einfache Arbeiterinnen; konfliktbeladene Frauen, deren Verhalten nicht den gesellschaftlichen Konventionen entspricht; und Frauen am untersten Rand der Gesellschaft; aber auch für komische Rollen. Zwischen 1920 und 1922 produziert Asta Nielsen drei Filme selbst, darunter eine Verfilmung von Shakespeares Hamlet, in der sie den Dänenprinzen spielt. Die Sommermonate verbringt sie in ihrem1923 erbauten „Karusel“ auf Hiddensee, wo sie unter anderem Besuch von Ringelnatz bekommt. Gut 60 Jahre später kurven Marlene und Vera mit Rädern über die kleine Ostseeinsel, bewundern das runde Bauhaus-Gebäude, das nun unter Denkmalschutz steht, und finden eine Postkarte, die den Stummfilmstar vor seinem rundlichen Häuschen zeigt. Das Studio Warner Brothers – im nächsten Jahrtausend Marlenes Arbeitgeber – produziert Mitte der 1920er-Jahre tonunterstützte Filme. Ermutigt vom Erfolg des 1926 uraufgeführten Streifen „Don Juan“ bringen Warner Brothers weitere Tonfilme in die Kinos. Als offizieller Beginn der Tonfilmära gilt der 6. Oktober 1927, als „Der Jazzsänger“ uraufgeführt wird. Asta Nielsen, „die schweigende Muse“ tritt nur in einem einzigen Tonfilm auf, denn ihr gekonntes Mienenspiel geht im neuen Medium unter.

 

Aus der Revolution in die Inflation oder Een bisken schmal
In der größten Industriestadt des Kontinents wirken Claire Waldoff, Heinrich Zille, Marlene Dietrich, Asta Nielsen, Otto Dix, Lionel Feininger und Albert Einstein. Bertolt Brecht ist nach eigenen Angaben 1924 – 1933 “in der Asphaltstadt” daheim. Zunächst verdient er hier sein Geld mit Kurzgeschichten. “Bertold Brechts Hauspostille” wird 1927 im modernen Verlagshaus Ullstein in Tempelhof (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tempelhof_gegend_tempelhofer_hafen_-001.jpg zeigt die Ullsteineule auf dem Arbeitereingang) gedruckt, dort, wo Vera knappe 90 Jahre später in die digitalen Geheimnisse des Online-Trainings eingeweiht wird. Diese Hauspostille hat sie auch als durchdigitalisierte Online-Trainerin im Haus, vor allem wegen der Exerzitie “Vom Schwimmen in Seen und Flüssen”. Es werden noch mehr Fabriken gebaut, strömen Menschenmassen in die Hoch- und Untergrundbahn. Die U-Bahn hat schon vor dem Ersten Weltkrieg zigmillionen Fahrgäste und ist “ein großes Lusterlebnis”, wie Walter Kiaulehn in seinen Erinnerungen an die Zwanziger Jahre schreibt:. “Unter der Erde fluten die Menschenströme durch ein grün gefliestes Labyrinth, dessen Decken auf Lichtkapitellen zu schweben scheinen…. Man fühlt sich in eine futuristische Unterwelt wie in Fritz Langs Film “Metropolis” versetzt”. Der 8. August 1924 gilt als Geburtsstunde des modernen S-Bahnverkehrs. An diesem Tag fährt in Berlin der erste elektrisch betriebene Zug. Das Erfolgsmodell S-Bahn wird andernorts samt Logo kopiert. In der Brüderstraße wird Klein-Trudel größer. An die Beletage erinnert sie sich Jahrzehnte später nicht mehr, aber daran, dass von Onkel Emil und Afrika die Rede war und ans Spielen im Hof. „Der Hof is ja een bisken schmal – aber schön hoch“, lässt Milieuzeichner Zille im Vorwort zum Buch „Rund ums Freibad“ den Hauswirt einer Berliner Mietskaserne sagen. Trudels Familie braucht sich über Platzmangel nicht zu beklagen. Vielleicht über die “unsibirsiche” Aufnahme im Hause Holub? Als die neu- und altgierige Schreiberin im Februar 2018 ihre Tante Lisa besucht, vermutet diese: “Die werden in Berlin ja auch nicht erfreut gewesen sein, als so eine Baltin aus Russland ankam”, und meint den Aufschlag ihrer Mutter bei “Amama und Apapa”. Wie auch immer, man bleibt bis 1926 in Berlin. Die „Roaring Twenties“ erreichen ihren Höhepunkt, für Maria gibt es als Mutter und vor allem als Schwiegertochter viel zu tun, dabei wäre sie vielleicht gerne um die Häuser gezogen, hätte sich von Krieg und Revolution erholt. Die Ortszeit, in die sie aus den von ihr sehr geliebten Weiten Sibiriens und deren von ihr ebenso geliebten Bewohnern gerät, wird gerne als golden verklärt. Vorgeschichte: 1918 ruft Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus, die Weimarer Republik ist eigentlich eine Berliner Republik. Nach Weimar hieß sie nur, weil dort 1919 die erste frei gewählte Nationalversammlung zusammentritt, um eine Verfassung zu beschließen.

Sinfonie der Großstadt oder Mackie-Messer-Geschunkel
Im Jahr 1923 kommt es zur Geldentwertung und Fritz J. Raddatz beschwert sich in seiner Tucholsky-Biografie über „das ganze Geflunker von den „goldenen zwanziger Jahren“ … zwischen Mackie-Messer-Geschunkel und „Ich-bin-die-fesche-Lola“-Geplärr“. Unter der Oberfläche der „Republik wider Willen“ habe es madenhaft gewimmelt. Auch Soziologe Eckart D. Stratenschulte vermute, dass die Bürger der Hauptstadt die Lage damals nicht „so eindeutig positiv“ empfunden haben. „Die wirtschaftliche Not war Anfang der zwanziger Jahre groß, die Hyperinflation zerstörte die Reste des Wohlstands“, steht in seinem handlichen Band „Kleine Geschichte Berlins“. Als Klein-Trudel drei Jahre alt ist, kostet ein Brot 80 Mrd. Reichsmark. Die „Roaring Twenties“, so Stratenschulte, wären eigentlich nur die Jahre zwischen 1924 und 1929 gewesen, als man in Friedrichstadt-Palast, Metropoltheater und Wintergarten auf dem Vulkan tanzt – bis zum Börsenkrach. Als die Inflation den Reichtum in der Brüderstraße frisst, zieht Maria mit dem Leiterwagen los, um Weinflaschen zu verkaufen. Materielle Knappheit kann ihr nicht viel anhaben. Fortsetzung folgt.