16 Nov

Sie sind ein Verkehrshindernis – Karneval für den Fischkopf

In Köln hat am 11.11. um 11.11 Uhr die fünfte Jahreszeit begonnen. Die Zahl elf übersteigt die Zahl der christlichen Gebote um eines. Die Regeln, die jetzt gelten, kann man im Kölschen Grundgesetz nachlesen: § 1 Et es, wie et es = Es ist wie es ist; § 2 Et kütt, wie et kütt = Es kommt wie es kommt; § 3 Nix bliev, wie et es = Nichts bleibt wie es ist; § 4 Et hätt noch immer jot jejange = Es ist noch immer gut gegangen; § 5 Mäht nix = Macht nichts; § 6 Wat fott es, es fott = Was fort ist, ist fort; § 7 Jede Jeck es anders = Jeder Narr ist anders; § 8 Wat soll dä Quatsch = Was soll der Quatsch?; § 9 Hammer immer esu jemaat = Das haben wir immer so gemacht; § 10 Hammer nit, bruche mer nit, fott domet = Haben wir nicht, brauchen wir nicht, fort damit; § 11 Drink doch ene met = Trink doch einen mit.

Das irre Treiben dauert ziemlich genau drei Monate. Die Herren-Sitzung der alteingesessenen Karnevalsgarde Rote Funken im Januar, bei der „Hämmche met suure Kappes un Pürree“ = Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelpürree gereicht wird, ist wahrscheinlich bereits ausverkauft. Da hilft eh nur Klüngeln, wie man das Netzwerken im vom Karneval und vom Katholizismus geprägten Stadt nennt. Wer es lieber rosa als rot mag, lässt sich in auf der Röschensitzung amüsieren. „Egal, ob Ihr Kätzchen in Stiefeletten oder Prinzen auf Pömps seid, kommt vorbei und feiert mit uns. Berührungsängste braucht übrigens keiner zu haben.“ Garantiert „100% heterofriendly“ grüßen Kölns Schwule und Lesben mit „Kölle Aloha!“ Am Rhein befindet man sich nun zwischen den Welten von grauem Alltag und rosarotem Jeckendasein.

blog_karneval_kofferFür die erste Reportage ihres Journalistinnenlebens brauchte die Hamburgerin 1990 eine Dolmetscherin. Die hat sie in Edith gefunden, ihres Zeichens kölsches Urgestein. “Made in Karneval” sagt sie über ihre Herkunft. Der Sprachkurs beginnt am Plattenspieler mit Bläck Föös. Die kölsche Band von 1970 bekam für ihre LP „Links eröm, Rächs eröm“ eine goldene Schallplatte. „Des rheinischen Volkes Stimme in Liedform“, schwärmt Musikwissenschaftler Dr. Dieter Glave, für Rheinländer seien solche Lieder Ausdruck ihres Lebensgefühls schlechthin. Edith legt mit beseeltem Blick „Ming eetste Fründin“, „In unserem Veedel“, „Buuredanz“ und „Drink doch eene met“, „Dat Wasser vun Kölle“ vor. Die angehende Reporterin versteht kaum ein Wort. Dafür hat Edith vollstes Verständnis. Genauso ist es ihr gegangen, als sie aus einem kölschsprachigen Haushalt in die hochdeutsche Nonnenschule kam. Also übersetzt sie:
„Ming eetste Fründin dat wor et Meiers Kättche un ich fuhr mem Rädche Daach für Daach zo im.
Et Meiers Kättche fuhr dann met om Rädche un dann dät et laache su wie ne Sunnesching“ = Er holte seine erste Freundin, das Kätchen mit dem Rad ab und sie lachte wie ein Sonnenschein. Mit 14 kam er mit dem Moped, aber der Nachbar hatte ein Auto – und fuhr mit dem Käthchen davon. Links eröm heißt linksrum, Veedel ist das Stadtviertel, Buur der Bauer. „Beschreibungen alltäglicher Begebenheiten meist nicht ohne Hintersinn“, schreibt Glave über die rheinische Kultband. „Ihrem Charme kann sich kaum einer entziehen“.
Im Januar 1990 an einem Sonntagvormittag steht die Hamburgerin auf einem Stuhl, schwingt eine Pritsche (ein geblümtes Applaudiergerät aus Pappe) und sagt ganz leise „Alaaf“. Das kommt vom preußischen Militär, das ja im Karneval mit nahezu militärischer Systematik verulkt wird, und heißt „alle abtreten“. Das tun die „Wiever“ in ihren Faschings- oder Sonntagskostümen beim karnevalistischen Damenfrühschoppen im Ostermannsaal in der Friesenstraße nicht. Sie schlürfen Kaffee und Sekt, Parfümschwaden schweben durch den Saal. „Leeve Mädscher!“ hebt der Präsident der Karnevalsgesellschaft von 1900 an. „Janz ejal, ob de Hohn bist oder Hahn“ = Egal, ob du Frau oder Mann bist, heißt es in einem alten Hit. Das trifft heute nicht zu, heute herrscht Geschlechtertrennung, auf der Bühne stehen nur Männer. Die Brühler Schlossgardinchen zeigen ihre Stachelbeerbeine und „King Size Dick“ stimmt das uralte Lied „Ich möcht zo Foß noh Kölle jon“ = Ich möchte zu Fuß nach Köln gehen, an. Die Hanseatin wird sentimental und weiß jetzt, was „Session“ heißt: Man sitzt und lässt sich amüsieren.

Für den 4. Februar gibt Edith den Kurs vor: Man hat sich um 11.11 Uhr auf dem Alter Markt (es heißt nicht etwa „auf dem Alten Markt“) zur offiziellen Eröffnung des Straßenkarnevals einzufinden. Und das ist gar nicht so einfach, weil da jeder hin will, der in der Stadt ist, nicht arbeiten muss und sich irgendwie bewegen oder in einer Kinderkarre schieben lassen kann. Wenn „de decke Trum in Kölle wieder klingt“, springt alles – bis auf die Karnevalsflüchtlinge – aus dem Anzug. Da wird auf Alter, Herkunft und sonstige Kleinigkeiten keine Rücksicht genommen, die Straßenbahn muss mitschunkeln und die kölschen Mädscher, wie sie bis ins hohe Alter heißen, in handgemachten Hexenornaten dirigieren den Tram-Chor: „Denn mir sin kölsche Mädcher, hann Spetzebötzjer an, mir lossen uns nit dran fummele, mir lossen keiner dran.“ = Wir lassen niemanden an unsere Spitzenunterwäsche, singt die Großmutter und die Enkelin auf ihrem Schoß guckt verständnisvoll aus dem Biene-Maja-Kostüm. Die Hamburgerin im Matrosenkostüm gibt sich norddeutsch reserviert. „Sie sind ein Verkehrshindernis!“ brummt der riesige Lappenclown (siehe Foto), als sie sich in der bewegten Menschenmenge auf dem Alter Markt hamburgisch steif dem Schunkeln widersetzt. „Darf ich Sie unterhaken?“ brüllt er langsam auf Hochdeutsch. Und dann treten die Bläck Föös auf und singen vom ersten Liebeskummer – der Chor der 10.000 stimmt textsicher ein und der frisch angeheuerte Matrose aus der Hansestadt kann sich wie prophezeit dem Charme der sechs Männer nicht entziehen, ihm/ihr kullern Tränen über den Schminkebart. „Geht doch!“ sagt der Clown mit anerkennendem Seitenblick. Aber das war nur die erste Hürde.
Inzwischen hat Edith frei, sie muss bei der Post der an Weiberfastnacht nur vormittags erscheinen. So richtig arbeiten tun in diesen Tagen eigentlich nur der Köbes, wie in Köln der Kellner im Brauhaus genannt wird und die Verkäuferin von Schmalzgebäck. Versuchen Sie mal, an den sechs Tagen von Wieverfastelovend bis Aschermittwoch mit einem Kölner ins Geschäft zu kommen! Es gilt: „Wenn et Trömmelche jeiht, stonn mer all paraat, un mer trecke durch die Stadt“ = Wenn die Trommeln klingen, ziehen wir durch die Stadt, so auch Edith. Sie hat sich die Lippen feurig rot geschminkt und eine große Schere dabei. Jetzt geht es ans Bützen (Küssen) und Krawattenabschneiden. „Heute darfst du küssen, wen du willst“, erklärt sie. Der Matrose will nicht. In Straßen und Gassen erklingen kölsche Lieder: „En d’r Kayjass Nummero Null steit en steinahl Schull un do hammer dren studiert. Unsere Lehrer, dä heess Welsch, sproch e unverfälschtes Kölsch un do hammer bei jeliehrt. Joh un mer han off hin un her üvverlaat un han för dä Lehrer jesaat: Nä, nä, dat wesse mer nit mih, janz bestemp nit mih, un dat hammer nit studiert. 
Denn mer woren beim Lehrer Welsch en d’r Klass do hammer sujet nit jeliehrt.“ = In der Kaygasse nummer Null steht eine alte Schule, in der man beim Lehrer Welsch, der unverfälschtes Kölsch sprach, manches nicht gelernt hat.
„Dä Prinz kütt!“ ruft Edith und seine Tollität Hans-Jürgen I strahlt mit rosa Wangen im Sonnenschein: „Das ist Liebfrauenwetter“. Die Wiever jubeln – und ziehen weiter, mit einem Song über die Stadtsanierung auf den Lippen: „Mer losse d’r Dom en Kölle, denn do jehööt hä hin“ = Wir lassen den Dom in Köln, ist eigentlich ein Protestsong der Bläck Föös gegen die urbane Verunstaltung. Derweil wir die Kirche in der Stadt lassen, hat Edith schon diverse Männer geküsst und sich deren Krawattenspitzen mit Sicherheitsnadeln an die Brust geheftet. Sie drängt den Seemann zur Tat, als gerade ein Rattenfänger mit seiner Querflöte vorbei kommt. Der spielt Telemann und bekommt einen oppgedrückt, wie die Plattdeutschen sagen und entführt sein wachsendes Gefolge zum Mainzer Hof. In diese Gaststätte kommt man am fortgeschrittenen Donnerstag nur noch durchs Fenster. Und dann steht man auf dem Fensterbrett und ist plötzlich kein Verkehrshindernis mehr. „90 Prozent wollen Sex“, meldet der Kölner Express. Die Hamburgerin will Fastelovend. Am liebsten jedes Jahr. Und auf Ediths besonderen Wunsch ergänzt sie Folgendes: “Am Aschermittwoch ist alles vorbei!”. Besser ist es so. Dieser Brauch hat schon seine Gründe – das weiß die Fischköppin nach ihrer ersten Session aus leidvoller Erfahrung.

Karneval
Trotzdem nimmt sie im nächsten Jahr ein paar Tage frei, schleppt eine Kollegin mit zum Bützen und arbeitet sie in die Fastelovend-Regeln ein: „Am Aschermittwoch ist alles vorbei!“ Fastelovend ist eigentlich nur der Abend vor Aschermittwoch, dem Beginn der Fastenzeit. Aber schon im Mittelalter war das den Jecken zu wenig und sie haben ihn auf sechs Tage ausgedehnt. Sechs Tage Völlerei, Sünde und Lust, bevor nach altem christlichen Brauch das Fleisch bis Ostern aus der Küche verbannt wird. Dann heißt es „Carne vale“ – Lebe wohl, Fleisch. Vorher waten die beiden taz-Redakteurinnen 1991 durch Kölsch-Pfützen, tanzen ein paar Nächte auf Glas und halten es mit Brings: „Nä, wat wor dat dann fröher en superjeile Zick, mit Träne in d’r Auge loor ich manchmol zurück. Bin ich hück op d’r Roll nur noch half su doll, doch hück Naach weiß ich nit wo dat enden soll.“ = Mit Tränen in den Augen denken sie an schöne Zeiten zurück, sind nur noch halb so doll auf der Rolle und wissen aber auch heute in manchen Nächten nicht, wo das enden soll…

Nach einer berufsbedingten Karnevalspause schneidet die Hamburgerin 1998 Löcher in zwei Bettlaken (schnellstmögliches Gespensterkostüm) und verschleppt ihre Tochter auf den Geisterzug. Angefangen hat es damit 1991, als der Rosenmontagszug wegen des Golfkrieges abgesagt wurde. Statt dessen fand in Köln eine Anti-Golfkriegs-Demonstration statt, Demonstranten und Karnevalisten zogen unkoordiniert durch die Straßen. Seit 1992 organisiert der Verein „Ähzebär un Ko“ den „Jeisterzoch“. Der „Ähzebär“ ist eine der ältesten tradierten Karnevalsverkleidungen und stellt den Winter dar. Und der Geisterzug durch die dunklen Straßen lässt wohlig erschauern: So war das vielleicht früher mal, als sich die ersten Narren herumtrieben. Am Karnevalssonntag bewundern die Hamburger Jecken die „Schull- und Veedelszög“, die Parade der Schulklassen, Spielmannszüge und Vereine aus allen Kölner Stadtvierteln. Die basteln und bauen das ganze Jahr an Wagen und Verkleidungen und werden dafür von einer halben Million Zuschauern bejubelt, darunter auch Ediths Reisegruppe, die lernt “Kamelle! Strüßje!” zu brüllen und sich auf der Steuerbordseite aufzustellen, dahin werfen nämlich die Rechtshänder. “Strüßje“ brüllt der Mann in der Krachledernen, reißt eine Rose aus dem Strauß, überreicht sie der Hexe.“Kamelle!“ schreit sein Kumpel und sammelt rosaweiße Schaumzuckerstreifen auf. Wenn man Hunger habe, müsse man „Suure Jurke“ = Saure Gurken oder „Jemös“ = Gemüse rufen, erzählt Edith, empfiehlt aber eher Merzenich, wo die wahren Heldinnen des Karnevals unzählige Berliner, Mutzen, Quarkbällchen und anderes fettes Gebäck über den Tresen schleudern.

2001 unternimmt Edith mit der inzwischen gewachsenen Gruppe der „Fischköppe“ Exkursionen in die Randgebiete. Es geht ins Ländliche und in den schwul-lesbischen Karneval. Auch im Kölner Umland ist der Karnevals-Virus angeblich angeboren. Das Karnevalstreiben biete der Seele für einen Moment einen Ausweg, erklärt Eschweilers Chef-Narr Jupp Carduck, vor allem in der alten Bergmannsstadt, wo auch heute noch Menschen für ihr täglich Brot malochen würden. Spitzengagen von 2000 Mark für eine Büttenrede und 15000 Mark für eine Mundartband, die in Köln damals üblich waren, konnte in Eschweiler niemand zahlen. Beim „handgestrickten Karneval“ seien „mindestens 51 Prozent Improvisation“ berichtet Norbert Weiland, der dort seit Jahrzehnten am Gelingen der Sessionen „strickt“. Und vom Kölner Festkommitee – zuständig für die Abwicklung in der Stadt – wird ihm zugeflüstert: „Erhaltet euren Karneval, wir bestimmen unseren schon lange nicht mehr selbst.“ Die Schwulen gestalten ihren Karneval augenscheinlich selbst. Die „jecken Hamburgerinnen“ erhalten folgende Anleitung: „Wir treffen uns an Weiberfastnacht zwischen 16.11 Uhr und 17.11 Uhr im SCHULZ (ehemaliges schwul-lesbisches Zentrum)…es ist immer schwer an diesem Tag so punktgenau irgendwo sein zu wollen und Handy funktioniert nur, wenn der Krach nicht zu groß ist.
Ich werde mich als Teufelin verkleiden, der Dreizack wird mir als Führungsinstrument dienen.“ Die norddeutsche Delegation findet sich zwischen männlichen Prinzessinnen und weiblichen Seemännern. „Auf jeden Fall ist Köln, von hinten und von vorn, der geilste Arsch der Welt“, davon ist man hier fest überzeugt. Dann erhebt sich der Dreizack über die wogende Menschenmenge in der Kölner Südstadt, die Norddeutschen folgen ihm unters Severinstor am Chlodwigplatz. „Dat is schön mitten in der Südstadt“, findet Edith. In der Altstadt seien zu viele Touristen, die würden schubsen, drängeln, pöbeln und wüssten nicht, was sich im Karneval gehört: „Mer stonn eröm, drinke jet un et wed jesunge un palavert un de andere Jecke wäde inspiziert un bei Bedarf jeknutscht.“ Das heißt: Rumstehen, mäßig trinken, heftig singen, mit den Umstehenden sprechen, deren Kostüme ausdrücklich bewundern und sich bei Bedarf annähern. Den echten kölschen Jeck erkennt man an ausgesuchter Höflichkeit mitten im Jewöhl. Also folgen die Hanseatinnen und lassen sich unterm Tor von den fanatischen Trommlern des „Klüngel tropical“ rocken. Klüngel ist übrigens das kölsche Wort für Networking. Ohne Karnevalsverein geht in manchen Branchen in der Domstadt gar nichts.

2002 steigen die Hamburgerinnen mit professioneller Ausrüstung in den Zug: Eine Tüte mit Schminke, Hexennase und Bart; eine Tüte mit Hexenröcken und -tüchern samt robusten Schuhen; eine Tüte mit Matrosenmütze, Streifenshirt, Marinehose, Piratenkopftuch, Ohrring; eine Tasche für den Straßenkarneval mit einem dicken Mantel, den man in der Kneipe in die Ecke werfen kann. Und sie erhalten Kostüminspirationen, unter anderem in der Karnevalsabteilung des Kölner Kaufhofs – hier gibt es alles für Indianer, Asiaten, Cowgirls, Astronauten, Außerirdische, Mönche und Nonnen – und von echten Profis. Die knoten geschickt eine Einkaufstüte um die Stirn, wickeln sich Kohlblätter ums Haupt, verstecken die Augen insektengleich hinter Teesieben oder nahöstlich hinter einem Apfelsinennetz, bauen sich mit Bordmitteln eine ausladende Kopfbedeckung aus Blechdosen, Plastikblumen, Papiervögeln und Tüll. „Was eine unten rum an hat, zählt nicht im Jewöhl.“ Eine andere Strategie verfolgt die Frau in Plüsch: „Ich gehe immer ein Jahr als Maus, ein Jahr als Kätzchen, Männer mögen was Niedliches.“ Bärbel hingegen greift seit Jahrzehnten in ihren ledernen Karnevalskoffer, zieht einen knallengen Lederrock, Nietenarmbänder, ein Babydoll-Nachthemd aus den 50er-Jahren, Netzhandschuhe und ein Leopardenkleid heraus. Drei Stunden Vorbereitung sind in jedem Fall einzuplanen.

Bei Saturn bringt Edith ihre Reisegruppe dann musikalisch auf den neuesten Stand. Die Kölner Firma hat 1961 am Hansaring ihren ersten Markt eröffnet und in den 70er-Jahren als erster Laden  in Deutschland ein großes Pop- und Rock-Schallplatten in Selbstbedienung angeboten. Im neuen Jahrtausend bietet Saturn zum Karneval „Ich hab drei Haare auf der Brust ich bin ein Bär“. Nachdem die Reisegruppe die Kopfhörer abgelegt hat, klärt Edith über die Ursprünge der Weiberfastnacht auf. Wäscherinnen hatten in Bonn-Beuel 1824 das Rathaus gestürmt und gegen die Männerherrschaft aufbegehrt. Das erste Beueler Damenkomitee war also frauenbewegt. Die Beueler Wäscherinnen und Bleicherinnen wehrten sich gegen die unzumutbaren körperlichen und seelischen Belastungen, die ihnen aufgebürdet wurden. Sie trafen sich zum Kaffeeklatsch, bei dem ein festes Reglement galt: Die Frauen hatten die Pflicht, über die groben Verstöße ihrer Männer gegen den Hausfrieden und die eheliche Treue oder über deren Alkoholexzesse zu berichten. Die Übeltäter waren ausgeschlossen. Ihre Probleme wollten die Frauen unter sich besprechen, denn unbeobachtet konnten sie sich ihren ganzen Frust von der Seele reden. Das war so eine Art Frauenzentrum des 19. Jahrhunderts, lernen die Damen aus dem Norden. Die Beueler Wäscherinnen wehrten sich also gegen das Patriarchat, die Dominanz der Männer und die damit verbundene Ausbeutung der Frauen. Daraus entstand ihr Brauch, sich einmal im Jahr – nämlich am Donnerstag vor Karneval – zusammen zu tun und das Rathaus zu stürmen, erklärt Edith, als Personalerin spezialisiert auf Empowerment, also Ermächtigung. So gerüstet trifft die Frauengruppe auf die Wäscherinnen von Bonn-Beuel. Seit 1958 benennen sie alljährlich eine junge Repräsentantin aus ihren eigenen Reihen, die Wäscherprinzessin, und eine Vertreterin der resoluten, kampferprobten Älteren wird ihr an die Seite gestellt, die Obermöhn.

2002 fährt die Hamburgerin wieder zur Frühjahrskur ins Rheinland, das Karnevals-Motto in jenem Jahr lautet: „Kölle is en Jeföhl“. Und das kann einer schon fehlen, wenn sie zwei Jahre aussetzt. Medizinerverkleidung mit Mundschutz schützt vor der Grippewelle und ist in diesem Jahr besonders angesagt. Zwei Ärzte in grünen Kitteln bieten sich in der Straßenbahn an: „Heute operieren wir umsonst.“ Zwischendurch ein Rievkooche, anderswo würde man Kartoffelpuffer sagen, als Grundlage fürs Kölsch. So richtig viel Kölsch geht gar nicht, dafür sind schon die Schlangen vorm Klo zu lang. „Wer hat mir die Rose auf den Hintern tätowiert? War ich in Hypnose, hat ein Ufo mich entführt?“ singen sie in diesem Jahr. Gute Fragen! Ein anderes Lied gibt nur vage Antworten: „Mahatma Glück, Mahatma Pech, Mahatma Ghandi. Man weiß im Leben vorher nie genau, wat kann die“. Das ist natürlich ein wenig frauenfeindlich, wird aber auch sehr gerne gesungen. Dazu auf den Bänken tanzen lässt sich im „Früh am Dom“, der Pflichtstation nicht nur im Karneval. Rucksack? Mit Gepäck darf man nicht hinein. Das Geld trägt man am Körper, mehr braucht man nicht. Edith klärt über die Logistik auf: Die Partys beginnen am Donnerstag spätestens um 12 Uhr. Vor den Kneipen in der Kölner Südstadt, dem „Ubierding“, „Spielplatz“, „Chlodwig-Eck“, „Petersberger Hof“, „Lithos“, die alle jedes Jahr für den Karneval von der Decke bis in jede Ecke durchdekoriert und hinterher renoviert werden, steht man bis zu zwei Stunden. Das kann sehr amüsant sein, oder sehr kalt. Hinter den beschlagenen Scheiben, an denen die Tropfen unaufhörlich zu den Schuhen rinnen, findet derweil die Prinzessin den Ochsen, die Putzfrau den Bären.

Edith kennt auch den absoluten Geheimtipp für die Nubbelverbrennung „am Eigelstein“. Von diesem Veedel heißt es „Am Eigelstein ist Polka, am Eigelstein ist Tanz, da packt die dicke Rita…“ und so weiter. Mehr wird nicht verraten. In der Nacht zum Aschermittwoch muss ein Strohmann für die Karnevalssünden büßen. Die lebensgroße Stroh- oder Lumpenpuppe wird unter dem Geheule und Gejohle einer extatischen Trauergemeinde als Personifikation des Karnevals verbrannt. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, um die katholische Obrigkeit mit eindeutigen Ornaten und angedeuteter Moralpredigt auf die Schippe zu nehmen. Im Laufe des Rituals wird immer offensichtlicher, wer „dat all Schuld wor“. Der symbolische Reinigungsakt soll auf schon im Mittelalter praktizierte heidnische Zeremonien zurückgehen. Damals wurde der „Ähzebär“, eine in Erbsenstroh gehüllte Puppe, verbrannt, um symbolisch den Winter zu vertreiben. Den kölschen Namen „Nubbel“ bekam der Schuldige erst später. Seit dem 18. Jahrhundert sagt man in Köln, wenn man keine näheren Angaben machen kann oder will „dä es beim Nubbel“ = der ist irgendwo, „dat wor dä Nubbel“ = das war irgendwer. Der Nubbel hängt in der Karnevalszeit über vielen Kneipen und wird in der letzten Karnevalsnacht verbrannt. Die Einheimischen wissen Bescheid und helfen auch beim Text: Es wird eine Anklageschrift vorgetragen, meistens in Mundart und oft auch gereimt. Der Ankläger ist ein Karnevalsjeck, der sich als Geistlicher verkleidet hat. Zunächst verteidigt die Menge den Nubbel, am Ende ist sie von seiner Schuld überzeugt und fordert Rache. Die Anklage gipfelt dann beispielsweise in rhetorischen Fragen wie: „Wer hat Schuld, dass wir unser ganzes Geld versoffen haben? Wer hat Schuld, dass wir fremdgegangen sind?“. Die johlende Menge antwortet dem Redner mit einem lauten „Dat wor der Nubbel!“, „Der Nubbel hat Schuld! Er soll brennen!“ oder ähnlichem. Nach dem Volksglauben werden mit dem Nubbel auch alle in der Karnevalszeit begangenen Sünden und Verfehlungen getilgt. Nach der Nubbelverbrennung geht es wieder zurück in die Kneipe und es wird zu Karnevalsmusik weitergefeiert, bis schließlich am Morgen der Aschermittwoch beginnt und die Karnevalszeit vorbei ist.

 

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Berichts aus Köln